© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

„Der Populismus ist hartnäckig“
Jahrelang war sie fast unaufhaltsam. Doch nun scheint die rechte Welle in Europa gebrochen. Ist sie gar schon am Ende? Nicht wenn die Parteien Lehren aus den Niederlagen ziehen, mahnt der konservative Politikwissenschaftler Marco Tarchi
Moritz Schwarz

Herr Professor Tarchi, ist der „Rechtspopulismus“ in Mitteleuropa gescheitert?

Marco Tarchi: Nach jeder Wahl, bei der so eine Partei Stimmen verliert, verkünden Medien und Konkurrenten, der Populismus sei tot. Steigen diese Art Parteien aber in den Umfragen, prangern sie sofort die anhaltende Gefahr des Populismus an. Diese Schizophrenie zeugt von der Hartnäckigkeit des Phänomens. Zudem zeigen die Umfragen, daß die Lega bei den italienischen Wählern nach wie vor an erster Stelle steht und daß Marine Le Pen schon in der ersten Runde der Präsidentenwahl 2022 Macron oder jeden anderen überholen könnte.

Sowohl die Lega als auch die FPÖ haben sich 2019 selbst aus in den Umfragen erfolgreichen Regierungen hinauskatapultiert. Für letztere wurde die „Ibiza-Affäre“ zudem zum Wahldesaster. In Großbritannien ist die Ukip verschwunden, und die Brexit-Partei liegt in den Umfragen sogar hinter den notorisch schwachen Grünen. In Deutschland befindet sich die AfD, statt „die Regierung zu jagen“, in einer lähmenden Dauerkrise. Und in den USA ist Trump nach seiner ersten Amtszeit mutmaßlich abgewählt – was seit 1945 nur wenigen US-Präsidenten „gelungen“ ist. Wie erklären Sie diese Serie von Niederlagen?

Tarchi: Es gibt nicht „die eine“ Erklärung. Denn die sogenannte „rechtspopulistische Familie“ ist in Wahrheit keine, sondern muß vielmehr als instabiles, heterogenes Aggregat von Parteien gesehen werden, von denen jede eigene Strategien verfolgt und mit spezifischen Bedingungen zurechtkommen muß.

Aber sie bilden eine Kategorie, haben also Gemeinsamkeiten. Sie müssen ergo auch vergleichend betrachtet werden können. 

Tarchi: Ja, aber der Populismus ist eine Mentalität, die durch einen eigentümlichen Politikstil gekennzeichnet ist, keine Ideologie; die populistischen Parteien handeln also in einer zufälligen Reihenfolge, und jeder Versuch einer Koordinierung auf supranationaler Ebene ist zum Scheitern verurteilt. Folglich muß jeder Fall im Kontext betrachtet werden: Als Lega-Chef Matteo Salvini 2019 beschloß, das Bündnis mit den Fünf Sternen zu beenden, wurde die Regierung, in der er Innenminister war, von 67 Prozent der Wähler geschätzt. Aber seine Entscheidung war ein enormer strategischer Fehler, verursacht durch seinen Berater Giancarlo Giorgetti, der mit einflußreichen Finanz- und Industriekreisen in Verbindung stand. Die FPÖ wiederum zahlte für die menschliche Schwäche HC Straches. Und Nigel Farage verfolgte stets nur ein Ziel, den Brexit. Es war immer klar, daß ihn nichts anderes interessiert. Donald Trump schließlich stolperte über Covid, just als die US-Wirtschaftsleistung seine Wiederwahl sicher zu machen schien. Diese Fälle zeigen immerhin – und ich denke, dies gilt wohl auch für die AfD –, daß die Hauptprobleme populistischer Parteien einem Übermaß an Abhängigkeit von den eigenwilligen Persönlichkeiten ihrer Anführer geschuldet sind.

Allerdings sind sogenannte Rechtspopulisten in Polen, Ungarn und in einem Gürtel von Frankreich bis Finnland erfolgreich. Gibt es da kein Erfolgsmuster, von dem ihre gebeutelten Schwesterparteien lernen könnten?

Tarchi: Ich glaube nicht, daß es möglich ist, die entsprechenden Parteien dieser Länder in einer Familie zusammenzubringen. Tatsächlich gehören sie im EU-Parlament auch drei verschiedenen Fraktionen an. Einige sind populistisch, andere, wie die ungarische Fidesz und die polnische PiS, nutzen oft einen populistischen Kommunikationsstil. Aber ihr „Souveränismus“ oder „Illiberalismus“ ist vor allem eine Form des Nationalismus – vermischt mit einer Dosis autoritärer Mentalität. Die Gründe für ihren Erfolg sind also nicht die gleichen. Für Fidesz und PiS sind die Wurzel ihrer Erfolge zwei typisch rechte Positionen: kultureller Traditionalismus und Politik von Recht und Ordnung. Die populistische Forderung nach Respektierung des Volkswillens oder Verachtung für Berufspolitiker spielen bei ihnen weniger eine Rolle. Während etwa bei Geert Wilders PVV oder der Dänischen Volkspartei das Gegenteil zutrifft. Ordnet man aber Fidesz und PiS trotz meiner Zweifel in diese Kategorie ein, ist die Hauptursache für ihre Erfolge wohl ihre starke Organisation. Sie sind, vor allem in den Agrar- und Randregionen, tief verwurzelt und verfügen über erfahrene Kader, die enge Beziehungen zu Interessen- und Bürgergruppen entwickelt haben, manchmal im Sinne des Klientelismus. Allerdings ist dies meines Erachtens eigentlich ein weiterer Grund, sie nicht der „populistischen Familie“ zuzurechnen. Denn populistische Parteien sind schlecht organisiert, da die übergroße Mehrheit ihrer Anhänger offenkundig eine antipolitische Haltung hat und allem mißtraut, das an die verabscheute Parteipolitik erinnern könnte.

Also können AfD, FPÖ, Lega etc. nach Ihrer Ansicht von den erfolgreichen rechten Parteien tatsächlich nichts lernen?

Tarchi: Es gibt kein perfektes Rezept, denn die Erfolge der wirklich populistischen Parteien sind mehr dem Versagen ihrer Gegner als ihrem Agieren geschuldet. Vielleicht könnten sie einerseits profitieren, wenn sie mehr Sachkompetenz hätten. Oder auch wenn sie weniger Abhängig von den Launen ihrer Führer wären. Allerdings könnten sie so in den Augen ihrer potentiellen Wähler den etablierten Parteien zu ähnlich werden.

Ist ein Hauptproblem nicht, daß sie offenbar nicht zu Kontinuität fähig sind? Lega, FPÖ, Trump – oder vor 19 Jahren die Schill-Partei in Hamburg – hatten es in die Regierung geschafft und hätten den Bürgern beweisen können, daß sie nicht nur eine Reform-, sondern auch eine stabile Kraft sind. Statt dessen brachen ihre Koalitionen zusammen – beziehungsweise Trump war in vier Jahren nicht in der Lage, eine stabile Regierungsmannschaft zu schaffen. Eindruck bei den Bürgern: Rechte können’s nicht! Sie führen zu Chaos. 

Tarchi: Populistische Parteien sind eben im wesentlichen Protestparteien, also eher daran gewöhnt, die Politik der regierenden Eliten anzuprangern, als plausible Alternativen zu entwerfen. Und der übliche Ausschluß aus fast allen Kabinetten hindert sie daran, eine Regierungskultur zu entwickeln. Werden sie trotz dieser Marginalisierung doch einmal als kleiner Partner akzeptiert, leiden sie unter der größeren Erfahrung und Expertise ihrer Verbündeten. Allerdings, wenn sie auf lokaler Ebene Verantwortung bekommen, sind ihre Resultate oft nicht so schlecht: Man denke an Jörg Haider als Kärntner Landeshauptmann, an viele von der Lega regierte Kommunalverwaltungen Nord- und Mittelitaliens oder die kleine Zahl französischer Bürgermeister des Rassemblement National. Eigentliche Schwierigkeit dieser Parteien ist, ihre populistischen Prinzipien und Haltungen beizubehalten, wenn sie an der Macht sind, und sich nicht dem Establishment anzugleichen.

In England oder Holland haben sogenannte Rechtspopulisten massiv Einfluß gewonnen und eine Verschiebung der Etablierten nach rechts erreicht. Doch sie selbst sind nie an die Macht gekommen. Ist das ein weiteres strategisches Problem?

Tarchi: Wie ein französischer Minister der Sozialisten vor vielen Jahren sagte, wirken populistische Parteien wie ein Thermometer der Demokratie: Ihre Erfolge zeigen, daß die Politik an einer Krankheit leidet. Versteht die politische Klasse die Botschaft und reagiert positiv, kann sie die Wirkung der Populisten auf die öffentliche Meinung verringern – ist aber gleichzeitig gezwungen, einige der Vorschläge, die zu deren Popularität geführt haben, für sich zu nutzen. Dies stellt populistische Parteien in der Tat vor ein strategisches Dilemma: Das Unvermögen aus ihren Wahlerfolgen Nutzen in Form von Regierungsbeteiligung und -vermögen, zu ziehen, ist die Folge der Stigmatisierung, mit der man sie versieht und die ihr Image beeinträchtigt: Wenn auch nicht immer, so werden sie doch oft als radikal, extremistisch, unzuverlässig oder gar nostalgisch gegenüber autoritären oder faschistischen Regimen beschrieben und gelten dem Großteil der öffentlichen Meinung als delegitimiert. Nur eine kulturelle, metapolitische und planmäßige Strategie könnte diese Situation verändern. Aber die populistischen Führer scheinen sich dieses Handicaps überhaupt nicht bewußt zu sein.

Ist der Begriff „Populismus“ nicht Teil des Problems, da er in diffamierender Absicht von den Etablierten geschaffen worden ist?

Tarchi: Es ist ein seriöser Begriff, der sinnvoll zur Beschreibung eines politischen Phänomens verwendet werden kann, das mit den anderen klassischen Kategorien der Politikwissenschaft nicht zu verstehen ist. Und gleichzeitig ist es ein diffamierender Begriff, den die Etablierten gegen Konkurrenten nutzen. 

Inwiefern ist er denn bitte „sinnvoll“?

Tarchi: Aus wissenschaftlicher Sicht beschreibt er die Mentalität, das Volk als eine organische Gesamtheit zu identifizieren, die künstlich durch feindliche Kräfte geteilt wird. Und die diesem ethische Qualitäten zuschreibt, indem sie dessen Realismus, Fleiß und Integrität der Heuchelei, Ineffizienz und Korruption der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Oligarchien entgegenstellt. Sowie den Primat des Volkes als Quelle der Legitimation der Macht über jede Form der Repräsentation und Vermittlung setzt. Wenn der Begriff hingegen verwendet wird, Konkurrenten zu disqualifizieren, soll er als Synonym für Demagogie dienen.

Sollte die Rechte den Begriff also nicht lieber ablehnen, als ihn zu übernehmen?  

Tarchi: Die populistische Mentalität ist nicht auf das rechte Milieu beschränkt, sondern geht weit über die Kluft zwischen Links und Rechts hinaus – und stellt schließlich gar diese Kluft in Frage! Populistische Parteien haben in den letzten drei Jahrzehnten einen großen Teil jener sozialen Kategorien an sich gezogen, die traditionell die Wählerschaft linker Parteien mobilisierten, insbesondere ehemals kommunistische Wähler. Diese können nicht davon überzeugt werden, typisch rechte Argumente zu akzeptieren, etwa Lob des Marktes und kapitalistischen Wirtschaftens. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob die Rechte das Etikett Populismus ablehnen muß – sondern ob die populistischen Parteien das Etikett rechts ablehnen müssen.

Gibt es Populismus überhaupt? Denn oft wird er definiert als: Illusorisches zu versprechen, nur weil es im Volk gut ankommt. Und einfache Antworten auf komplizierte Probleme zu geben. Beide Kriterien erfüllen linke und etablierte Parteien allerdings genauso oft wie rechte.  

Tarchi: In der wissenschaftlichen Debatte wird Populismus sowohl auf rechte wie linke Parteien angewandt. Einige linke Denker, wie die belgische politische Philosophin Chantal Mouffe, fordern offen einen „Populismus der Linken“. Und die Parteien Syriza in Griechenland, La France insoumise in Frankreich, Podemos in Spanien und sogar Sahra Wagenknechts „Aufstehen“-Bewegung wurden als Linkspopulisten bezeichnet. Da aber Populismus sowohl in der Politik wie den Medien als disqualifizierender Begriff gesehen wird, wendet man ihn nur auf rechte Parteien an.

Wie sehen Sie die Zukunft der sogenannten rechtspopulistischen Parteien? 

Tarchi: Es wird weitgehend von ihnen selbst abhängen, also von den Fähigkeiten ihrer Anführer, ob sie Lehren aus ihren Niederlagen ziehen. Sprich, es ist die Frage eines Lernprozesses. Sie sollten mit einer sorgfältigen Lektüre der wissenschaftlichen Literatur über Strategie beginnen, von Machiavelli bis in unsere Zeit. Denn nur auf die Macht der sozialen Medien zu vertrauen, das könnte ein falscher Weg sein.

Die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli twitterte 2018: „(Heute) im Kindergarten ... gefühlt die halbe Welt vertreten: Kinder aus Argentinien, Deutschland, Indien, Pakistan, Algerien, Türkei, Kenia. Liebe AfD, Ihr könnt einpacken.“ Wird es künftig hierzulande so viele ausländischstämmige Bürger geben, daß „Rechtspopulisten“ keine Chance mehr haben?

Tarchi: Rechtsaußenparteien im allgemeinen vielleicht ja. Nicht unbedingt aber populistische Parteien. Denn sie könnten ob der Massenzuwanderung mehr Rückhalt in der Bevölkerung europäischer Herkunft finden. Der sogenannte „Nativismus“ der populistischen Parteien wird heute von den Eliten stigmatisiert, und das hält viele Wähler davon ab, für sie zu stimmen. Aber eine starke Zunahme der Probleme durch die wachsende Einwanderung könnte eine Welle der Empathie für die populistische Agenda auslösen.  






Prof. Dr. Marco Tarchi, lehrt Politische Wissenschaften an der Universität Florenz und ist unter anderem Experte für Populismus und die politische Rechte. Anfang der neunziger Jahre galt er selbst als ein Vordenker einer italienischen „Neuen Rechten“. Er ist Mitglied des „European Consortium for Political Research“, leitete mehrfach das nationale Forschungsprogramm „Transformation der italienischen Parteien“ und war Gastprofessor an verschiedenen Universitäten im Ausland. Tarchi zeichnet für die Magazine Trasgressioni und Diorama Letterario verantwortlich, publizierte zahlreiche Artikel in nationalen und internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften sowie etliche Bücher, darunter die Anthologie „Anatomie des Populismus“ (2019) und „Populistisches Italien“ (2015). Geboren wurde er 1952 in Rom. 

Foto: Anhänger der Lega (o.) und der AfD: „Oft werden sie als extremistisch beschrieben und ... (so) delegitimiert. Nur eine kulturelle, metapolitische und planmäßige Strategie könnte das ändern. Aber die Führer der populistischen Parteien scheinen sich dieses Handicaps überhaupt nicht bewußt zu sein“


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