© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Der General setzt sich durch
AfD Niedersachsen: Aufstellung der Landesliste für den Bundestag sorgt für Überraschungen
Christian Vollradt

Eine Woche nach ihrem Bundesparteitag (JF 50/20) beschäftigen dessen Nachwehen die AfD weiter. So ging der AfD-Ehrenvorsitzende Gauland in einem Grußwort zur Aufstellungsversammlung der niedersächsischen Landesliste für den Bundestag in Braunschweig verbal auf Parteichef Jörg Meuthen und dessen in Kalkar geäußerte Kritik an innerparteilichen Mißständen los: „Ton, Zeitpunkt und Inhalt dieser Rede waren eines Vorsitzenden nicht würdig“, empörte sich Gauland vor den rund 500 anwesenden Parteimitgliedern. Es wäre Meuthens Aufgabe gewesen, „die Partei zusammenzuführen, nicht Teile abzustoßen“, so der aus Brandenburg angereiste Gast.

Doch wenn sich der seit September amtierende Landesvorsitzende Jens Kestner (JF 39/20) vom Auftritt des Bundestagsfraktionsvorsitzenden Rückendeckung erhofft hatte, ging das Kalkül nicht auf. Zum zweiten Mal innerhalb eines knappen Vierteljahres hat ein von der Basis dominiertes Parteitreffen die Machtverhältnisse innerhalb des Landesverbandes komplett umgedreht. War es im September die Abwahl der damaligen Landesvorsitzenden Dana Guth und der Durchmarsch ihres Widersachers Kestner, so erfolgte nun am selben Ort ein erneuter „Rollback“.

Gleich die erste Entscheidung, wen die AfD zwischen Ems und Elbe als Spitzenkandidaten im Herbst 2021 nach Berlin entsenden will, endete mit einem Paukenschlag: Anstelle von Armin-Paulus Hampel, derzeit außenpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion und von 2013 bis 2018 niedersächsischer Landesvorsitzender, wählten die Mitglieder den früheren Bundeswehr-General Joachim Wundrak auf Platz 1. Mit 283 zu 229 Stimmen setzte sich Wundrak gegen den „Platzhirsch“ Hampel durch. Und das, obwohl der Generalleutnant a. D. abgesehen von seiner Kandidatur bei der Oberbürgermeisterwahl in Hannover im vergangenen Jahr (JF 34/19) innerparteilich noch nicht groß in Erscheinung getreten war. Für den unterlegenen Hampel, der fest mit seinem Wiedereinzug in den nächsten Bundestag gerechnet hatte, wurde es noch bitterer, als er auch im Duell um Listenplatz 6 den Kürzeren zog. 

Genauso überraschend kam das Aus für Hampels Verbündeten, den amtierende Landesvorsitzenden Jens Kestner. Er unterlag beim Kampf um Listenplatz 2 mit 267 zu 236 Stimmen dem Landwirt Frank Rinck, der sich wie Wundrak zuvor als klarer Unterstützer der im Oktober abgewählten Landesvorsitzenden Dana Guth positioniert hatte. Im Gegensatz zu Hampel und Kestner sowie dem ebenfalls unterlegenen Waldemar Herde können sich die anderen niedersächsischen Bundestagsmitglieder Thomas Ehrhorn, Jörn König und Dietmar Friedhoff mit ihren Listenplätzen Hoffnungen auf einen Wiedereinzug machen.

Schwere Vorwürfe gegen Kestner in anonymen Brief

Am Ende hieß es für viele Beobachter überraschend: Sämtliche Mitglieder des jetzigen Landesvorstands, die sich in Braunschweig um einen aussichtsreichen Listenplatz beworben hatten, waren bei der Aufstellung durchgerasselt. Über die Gründe dieser Watschn, die je nach Verortung Freude wie Frust ausgelöst hatte, kann nur spekuliert werden. In ihrer Unberechenbarkeit sei die AfD eben berechenbar, verwiesen Mitglieder auf die Volatilität von Basisdemokratie.Es zeige, daß beide widerstrebenden Lager in etwa gleich groß seien und eine Weder-Noch-Strömung in der Mitte der Partei dann den Ausschlag gebe; das Pendel schlage dann mal eher in Richtung (Ex-)-„Flügel“, mal in Richtung der Liberal-Konservativen. 

Vor allem, so heißt es in Kreisen der Landespartei, sei die Wahl des Landesvorstands im September eben bei einigen keine Entscheidung für Kestner und seinen „rechten“ Kurs gewesen, sondern gegen ein „Weiter so“ mit Guth. Und es habe sich auch als unzutreffend erwiesen, daß mit dem frustrierten Abgang der früheren Landesvorsitzenden auch massenweise Gefolgsleute aus dem Lager der als bürgerlich-gemäßigt Bezeichneten die AfD verlassen hätten. 

Guth, die mit zwei weiteren Abgeordneten die Landtagsfraktion in Hannover verlassen hatte, woraufhin die AfD über keinen Fraktionsstatus mehr im Leineschloß verfügt (JF 41/20), hatte sich unterdessen noch vor der Versammlung in Braunschweig mit einem Schreiben auch aus der Partei verabschiedet. Die internen Streitereien hätten mittlerweile „80 bis 90 Prozent der Zeit und der Kapazitäten“ eingenommen, und auch wenn das Wort Spaltung geächtet würde, sei klar, daß sich „die Lager niemals versöhnen“ würden. „Wenn es sich hier um sachliche Diskussionen handeln würde, wäre durchaus noch ein Sinn erkennbar, die Realität besteht jedoch aus Hetze, Lügen und Angriffen auf niedrigstem Niveau“, heißt es in dem Schreiben, das der JUNGEN FREIHEIT vorliegt. Ehemalige Mitstreiter Guths zeigten sich „maßlos enttäuscht“ von deren Vorgehen. 

Geschadet haben dürfte dem „Team Kestner/Hampel“ auch, was AfD-Mitglieder aus Osnabrück in einem anonymen Schreiben dem neuen Landesvorsitzenden vorwarfen. Der habe nach dem Rücktritt des dortigen Kreisverbands versucht, im Hauruckverfahren innerhalb kürzester Zeit einundzwanzig neue Mitglieder in die AfD zu holen. 

Hauptsächlich habe es sich dabei um Freunde, Verwandte oder Nachbarn von Kestner-Unterstützern gehandelt. Dies zeige, so die Verfasser des zweiseitigen Schreibens, daß es Kestner und seinen Mitstreitern allein darum gegangen sei, genügend Stimmen bei der Aufstellungsversammmlung zu bekommen und wieder in den Bundestag gewählt zu werden. Dazu hätten sie Methoden wie „in der organisierten Kriminalität“ angewandt. Die anonymen Schreiber legen zudem nahe, daß diese „gezielte Generierung von Wählerstimmen“ auf „30-Euro-Basis“ – sprich mit Bestechung – erfolgt sei. Der Bundesvorstand stoppte schließlich den Coup und verweigerte die Aufnahme der fraglichen Mitgliedskandidaten.