© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Immer noch kein funktionierender Staat
25 Jahre Dayton-Friedensabkommen: Die Waffen schweigen, doch vieles liegt noch im argen
Hans-Jürgen Georgi

Es dauerte drei Wochen im November 1995, bis im amerikanischen Dayton (Ohio) die Führer der drei Volkgruppen den Allgemeinen Rahmenvertrag für den Frieden in Bosnien-Herzegowina ausgehandelt hatten. Am 14. Dezember 1995 wurde er in Paris feierlich unterzeichnet. Den Zweck, Frieden zwischen den kriegs führenden Seiten zu stiften, hat er bis heute erfüllt. 

Daß es zur Unterzeichnung kam, lag auch an den gut austarierten nationalen Interessen der drei konstituierenden Völker bzw. Nationen, den Bosniaken (Muslime), den Serben (Orthodoxe) und den Kroaten (Katholiken). 

Verlockungen eines EU-Beitritts fruchten nicht 

Dazu wurde Bosnien-Herzegowina (BiH) in zwei fast souveräne Teile, die Entitäten, aufgeteilt. 49 Prozent der Fläche nahm der serbisch dominierte Teil, die Republika Srpska (RS), ein. In der etwas größeren Entität, der Föderation Bosnien-Herzegowina (FBiH) lebten auf 51 Prozent der Fläche hauptsächlich Bosniaken und Kroaten, mehr oder weniger gemischt. Eine Separiering, sofern sie nicht schon bestand, setzte sich durch die berüchtigten „ethnischen Säuberungen“, Flucht und Vertreibung während des Krieges, aber auch danach fort.

Einer der ersten Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft, der Österreicher Wolfgang Petritsch, beklagte etwa fünf Jahre nach der Unterzeichnung, daß alle Fragen, ob wirtschaftlich, sozial oder kulturell, dem „Primat des Ethnischen“ unterliegen würden. Dies sei der „bosnische Knoten“, und um ihn „zu entwirren und Bosnien und Herzegowina auf seinen Weg in die europäische Moderne zu helfen“, sei die internationale Gemeinschaft angetreten, so Petritschs Fazit.

Es wurden große Anstrengungen unternommen, Kräfte und Parteien zu unterstützen, die sich dem „ethnischen Diskurs“ verweigerten. Bei der Wahl 2000 schienen diese Anstrengungen tatsächlich Erfolg zu haben und es bildete sich eine Regierung aus Parteien ohne „nationales Vorzeichen“. Doch schon zwei Jahre später errangen die „nationalen“ Parteien wieder den Vorrang. 

Auch zwanzig Jahre später wird „ethnisch“ gewählt, wie die Kommunalwahlen im November zeigten. Auch wenn die Siege einiger „bürgerlicher“ Parteien als Schritt zur Überwindung des Nationalismus interpretiert werden, die nationale Zugehörig ist in den meisten Fällen ausschlaggebend.

Da die Entitäten durch den Dayton-Vertrag eine Art von Souveränität erhielten, stellte die internationale Gemeinschaft sich des weiteren zur Aufgabe, einen Gesamtstaat daraus zu bilden und damit auch die Nationalismen zu überwinden. Dem sollte die Bildung immer weiterer gesamtstaatlicher Institutionen und Verantwortlichkeiten dienen, denn im Vertrag von Dayton war der Gesamtstaat nur mit wenigen Zuständigkeiten ausgestattet worden. 

In den Jahren nach der Jahrtausendwende gelang der internationalen Gemeinschaft, in der Form des Office of the High Representative (OHR), tatsächlich die Formung einer gemeinsamen Armee, eine Steuerreform oder die Angleichung der zwei sehr eigenständigen Polizeisysteme. Meist wurde gehöriger Druck auf die bosnischen Politiker ausgeübt. Das Amt der Hohen Repräsentanten war Ende der neunziger Jahre mit machtvollen, den sogenannten „Bonner Befugnissen“ ausgestattet worden. Sie konnten Politiker aus politischen Funktionen entfernen, Gesetze erlassen oder Parteien von den Wahlen ausschließen. Allerdings erzeugte der Druck Widerstand auf der anderen Seite, und so wurden mit dem Ende der zweitausender Jahre die „Bonner Befugnisse“ nur noch selten angewandt. 

Nun setzte die internationale Gemeinschaft auf die Verlockungen eines EU-Beitritts, doch die Reformtätigkeit erlahmte. Insbesondere die Republika Srpska stellte sich gegen eine weitere „Zentralisierung“ und strebte nach immer weiterer Eigenständigkeit. 

Kroaten werden weiter von Bosniaken dominiert

Pünktlich zum 25. Dayton-Jubiläum verabschiedete das Parlament der RS ein 20-Punkte-Dokument, in dem sogar die Rückkehr zum „ursprünglichen Dayton“ gefordert wird. Das heißt, sämtliche Reformen und gesamtstaatlichen Institutionen, die seit 1996 eingerichtet wurden, sind zurückzunehmen. Wenn diese Forderung auch als unrealistisch betrachtet werden kann, so zeigt sich doch, welcher „Geist Daytons“ in BiH nach Abschluß des Daytonvertrags herrscht. 

Der Zusammenhalt des Gesamtstaates ist nicht nur durch die Spannungen zwischen der RS und der FBiH gefährdet, sondern auch innerhalb der Föderation von Bosniaken und Kroaten. Nachdem Ende der neunziger Jahre das Wahlrecht auf ethnischer Grundlage, das heißt Bosniaken wählen Bosniaken, Kroaten wählen Kroaten, abgeschafft wurde, kommt es immer wieder dazu, daß die Bosniaken, die in der Föderation eine Mehrheit von 3:1 ausmachen, Kroaten wählen, die zwar nominell Kroaten sind, aber in den Augen der Kroaten nicht als Vertreter ihrer Interessen gelten. 

Letztmalig geschah es 2018, als ein Vertreter der Partei „Nationale Front“ zum kroatischen Vertreter ins dreiköpfige Staatspräsidium gewählt wurde. Die „Nationale Front“ ist eine gemischtnationale Partei und versteht sich als Vertretung „aller Bürger“ in BiH. Der „kroatische“ Vertreter aus dieser Partei, Željko Komšic, erklärte dezidiert, daß er keine speziellen kroatischen Interessen wahrnehme, was praktisch bedeutete: er vertrat die Interessen der Bosniaken. 

Um dies zu verändern, boykottieren die Kroaten in der Föderation seit der Wahl 2018 bestimmte Institutionen und die Bildung von Regierungen, in denen sie laut Dayton-Vertrag ihre kroatischen Vertreter einsetzen dürfen. Dieses Prinzip der Vertretung ist noch einmal durch ein Urteil des BiH-Verfassungsgerichtes als rechtmäßig bestätigt worden, und die bosnischen Kroaten drängen seitdem massiv auf die Änderung des bestehenden Wahlgesetzes. 

Erschwerend kommt hinzu, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in mehreren Urteilen bestimmte, daß die Besetzung von Funktionen nach ethnischen Prinzipien diskriminierend sei. 

So stehen sich das ethnische Prinzip, wie es im Dayton-Vertrag abgesichert ist, und das Prinzip „Jeder kann jeden wählen“ fast unlösbar gegenüber. 

Solange diese Frage nicht geklärt ist, sehen sich die Kroaten um die Rechte eines „konstituierenden Volkes“, so wie es ihnen im Dayton-Vertrag zugesichert wurde, betrogen. Deshalb kommt der Wunsch nach einer „dritten Entität“, in der die Kroaten die Mehrheit bilden, immer wieder hoch. Die internationale Gemeinschaft ist in dieser Situation faktisch untätig. Es drängt sich Eindruck auf, als würde sie es nicht ungern sehen, daß die Kroaten von den Bosniaken dominiert werden.