© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

„Der Markt kann sich noch mal verdoppeln“
Volkswagen: Konzernchef Herbert Diess schwärmt von China, E-Autos und höheren Steuern. Dabei kämpft er mit peinlichen Alltagssorgen
Paul Leonhard

Ein teilstaatlicher Konzern mit starkem Betriebsrat und Stimmrechtsmehrheit eines österreichischen Familieclans, bislang 30 Milliarden Euro Strafzahlungen in Sachen „Dieselgate 2015“ sowie verurteilten oder angeklagten Spitzenmanagern – doch die Volkswagen AG war 2019 erneut mit fast elf Millionen abgesetzten Fahrzeugen der verschiedenen Marken von Audi über MAN bis Škoda der größte Autokonzern der Welt.

Bei einem Umsatz von 252,6 Milliarden Euro wurde ein operatives Ergebnis von 17 Milliarden Euro erzielt. Nur bei der Umsatzrendite lag Toyota mit 8,4 zu 7,3 Prozent vorn. Dennoch ist Konzernchef Herbert Diess umstritten. Und das liegt nicht an der Corona-Krise. Im Juli mußte der 62jährige frühere BMW-Manager als VW-Markenchef abtreten. Diess’ langjähriger Kommunikationschef Peik von Bestenbostel verläßt den Konzern zum Jahresende.

Fragwürdige E-Autos sollen EU-Strafen ausgleichen

Auch Thomas Ulbrich, seit 2018 im VW-Markenvorstand verantwortlich für den Bereich Elektromobilität, verläßt Wolfsburg. Ob der 54jährige ein Bauernopfer ist, darüber läßt sich nur spekulieren. Doch der von der Politik und Diess angeordnete Schwenk zum E-Auto läuft nicht rund. Das als Golf-Nachfolger ausgerufene E-Auto ID.3 kostet als Basismodell 34.112 Euro, was auch nach Abzug von 9.480 Euro „Kaufprämie“ ein stolzer Preis für ein Auto ist, das mit seiner 58-kWh-Batterie nur in der Theorie 420 Kilometer weit kommt.

Im ADAC-Ecotest waren es hingegen nur 335 Kilometer. Ein Kia e-Niro kam 2019 auf eine Reichweite von 395 Kilometern. Auto-Motor-Sport ermittelte bei Autobahnfahrten eine ID.3-Reichweite von 260 Kilometern – bei einem kalten Winter dürften es noch weniger sein, doch das Problem haben prinzipbedingt alle E-Autos. Doch Stadt- und Pendler-Zweitautos für Leute mit elektrifiziertem Stellplatz sind kein profitables Massengeschäft, wie BMW mit seinem teuren E-Kleinwagen i3 erkennen mußte.

Und um den ehrgeizigen Zeitplan einhalten zu können, mußte VW die ersten ID.3 mit einer unfertigen Software ausliefern. Auf Apple CarPlay oder Android Auto läßt sich verzichten, aber Programmabstürze sind peinlich für einen Weltkonzern – Tesla und die Wettbewerber aus Südkorea, Frankreich und Japan können das besser.

Doch jedes abgesetzte E-Auto vermindert die CO2-Strafzahlungen für Benzin- und Dieselautos an die EU (JF 5/19). Ansonsten wären für jeden Golf je nach Verbrauch mehrere hundert, teilweise über tausend Euro „Strafe“ fällig. Ende Oktober meldete VW 38.000 ID.3-Bestellungen und mehr als 14.000 Auslieferungen, doch ursprünglich sollten bis Jahresende 100.000 ID.3 in Zwickau vom Band rollen. Corona und der Frühjahrs-Lockdown hätten das verhindert, sagt der neue VW-Markenchef Ralf Brandstätter. Inzwischen laufe die „E-Offensive und die Übergabe an die Kunden auf Hochtouren“.

Ein Welt-Testfahrer konnte beim ID.3 keine „wirklich intelligente Mobilität“ entdecken. Bei einer Fahrt verabschieden sich alle Bildschirme im Fahrzeug und nicht einmal der Konzernzentrale gelingt es, in Berlin einen VW-Händler zu finden, der das Problem lösen könnte. Ein Ersatzwagen war nicht besser. Eine Spritztour nach Wolfsburg mußte abgebrochen werden, weil das Risiko zu groß war, auf der Autobahn mit leerem Akku einfach liegen zu bleiben. „Die Hoffnungen des VW-Konzerns und der deutschen Autobauer können sich nicht auf ein so durchschnittliches Auto stützen“, resümiert der Motorjournalist.

Auto-Motor-Sport wird noch deutlicher: Statt der 49.000 Euro Listenpreis sei der ID.3 in der höchsten Ausstattungsstufe „bestenfalls die Hälfte“ wert. Die Tester bemängeln nicht nur die Akkuleistung, Heck- und Stoßdämpfer seien nicht perfekt montiert, die Kunststoffe seien „schmutzempfindlich und hart“. Das Navigationsgerät sei erst nach mehreren 100 Metern Fahrt überhaupt zu gebrauchen. Der ID.3 erfülle nicht die „gewohnten hohen VW-Ansprüche an Paßgenauigkeit der Karosserieteile, minimale Spaltmaße, hochwertige Materialien und Details“.

„Steuer von etwa 100 Euro pro Tonne CO2“ verlangt

Ein ID.3-Tester der Wirtschaftswoche findet, „daß deutsche Ingenieurkunst genau da endet, wo die Grenze zur digitalen Welt überschritten wird“. Und das ist auch das Problem der achten Generation des Erfolgsmodells Golf. Auch hier gab es im Frühjahr massive Softwareprobleme, doch dank Corona hielt sich die Aufregung auf kleiner Flamme. Riesige Bildschirme von 8,25 bis 10 Zoll sind nett für Navigation und 360-Grad-Kamera, aber der weitgehende Verzicht auf fühlbare Schalter, Taster und Drehregler verschreckt traditionelle Kunden. Eine Temperatur- und Luftstromregelung über den Touchscreen wie bei Tesla spart Kosten, ist aber eine Zumutung und erhöht wegen der Ablenkung die Unfallgefahr.

Zu all dem kommen die Corona-Auswirkungen: Bis Oktober wurden von VW weltweit nur 6,1 Millionen Fahrzeuge produziert – im Vorjahreszeitraum waren es knapp acht Millionen gewesen. Das war ein Rückgang von 23,4 Prozent. Im dritten Quartal waren es zwar nur noch 4,2 Prozent weniger als 2019, aber nur wegen des Asiengeschäfts: „Wir haben bis Ende Oktober über 40 Prozent unserer Autos in China abgesetzt“, berichtete Diess stolz in der Wirtschaftswoche. „Jedes fünfte Auto, das in der Volksrepublik verkauft wurde, wurde vom Volkswagen-Konzern gebaut.“ Gemessen am Wohlstandsniveau gebe es dort noch zu wenige Autos: „Der Markt kann sich in den kommenden Jahren noch mal verdoppeln“, so Diess.

Für Kunden und Mitarbeiter in Deutschland und Europa kündigte der VW-Chef hingegen Belastungen und Preissteigerungen an: „Die Zielsetzung, Europa zur führenden Region im Kampf gegen den Klimawandel zu machen, finde ich richtig“, erklärte der VW-Chef. Effizient wäre „ein schneller Kohleausstieg“. Zudem verlangte er erneut eine „Steuer von etwa 100 Euro pro Tonne CO2“ – das Vierfache dessen, was ab 2021 nach dem Willen von Union, SPD und Grünen zu zahlen ist. Sprich: Benzin soll sogar um 36 Cent, Diesel und Heizöl um 41 Cent und Erdgas um 2,5 Cent pro Kilowattstunde teurer werden.

Wem das zu viel ist, der ist wohl ohnehin kein VW-Neuwagenkäufer. Und erst recht keiner für das elektrische „Weltauto“ ID.4 – eine Mischung aus Kombi und SUV, für den 45.000 bis 60.000 Euro fällig sind. Dafür gibt es zwei Nissan Qashqai oder VW Tiguan – mit dreifacher Reichweite bei einer Tankfüllung. Doch herkömmliche Autos sind für Diess künftig nur etwas für weit entfernte Länder, denn „aus wissenschaftlicher Sicht muß jetzt einfach gehandelt werden, denn der Klimawandel ist real und duldet keinen weiteren Aufschub“. Das hätten Angela Merkel, Markus Söder und die Grünen nicht besser formulieren können.

VW-Zwischenbericht 2020:  www.volkswagenag.com