© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Sorgen im Ferienparadies
Kanaren unter Migrationsdruck: „Wir können unsere Wohnungen nicht mehr bezahlen, und die werden hier kostenlos in Vier-Sterne-Hotels untergebracht“
Hinrich Rohbohm

Normalerweise wäre er nicht weggegangen. Aber die Corona-Pandemie habe ihm keine Wahl gelassen, sagt Nayef. Gemeinsam mit seinem Freund Younis sitzt der 23jährige an der Promenade der Playa del Ingles auf Gran Canaria. Die beiden waren vor zwei Monaten von dem Küstenort Dakhla in der Westsahara auf einem motorisierten Holzboot in Richtung Kanaren aufgebrochen. Wie lange sie auf der als äußerst gefährlich geltenden Route über den Atlantik unterwegs waren, daran kann er sich gar nicht mehr erinnern. „Wir waren vierzig oder fünfzig Leute auf dem Boot, fast nur Marokkaner. Wir hatten jedes Gefühl für die Zeit verloren.“

Beinahe täglich kommen Hunderte hier an

Nayef hatte als Reiseführer und als Kellner in einem Hotel in Marrakesch gearbeitet. Dann kam Corona. Und mit der Pandemie  die Ausgangssperren, die Hotelschließungen und das Ausbleiben der Touristen. „Ich hatte keine Wahl“, sagt er immer wieder. Gemeinsam mit seinem Freund Younis will er nach Europa. Der 25jährige hatte bereits Kontakt zu Schleusern, die die beiden in die Westsahara bringen. Nach Dakhla. Der Ort gilt inzwischen als Hochburg für die Überfahrt auf die Kanaren, obwohl er deutlich weiter südlich der Inselgruppe liegt. „Wir mußten erst die marokkanische Küstenwache umgehen“, erklärt Younis. Der direkte Weg auf die Kanaren sei zu gut bewacht.

Younis hatte davon gehört, daß man in Spanien dringend Arbeitskräfte benötige, besonders in der Landwirtschaft. Und daß die Aussicht bestehe, langfristig sogar die Staatsbürgerschaft eines europäischen Landes zu erlangen. Daß Spanien für sie dabei nur ein Übergangsziel sei, daraus machen die beiden keinen Hehl. „Wir wollen nach Frankreich“, verrät Nayef. Wegen der Sprache. Und weil Freunde und Verwandte von ihnen dort bereits lebten. Auch Belgien, Holland oder Deutschland seien für sie attraktive Optionen. In Deutschland hätten sie zwar keine Verwandten. „Aber wir wissen, daß dort hohe Löhne gezahlt werden. Und auch wenn man keine Arbeit bekommt, erhält man Geld“, zeigt sich Younis informiert.

Die Preise haben die Schleuser offenbar den Corona-Bedingungen geschuldet angepaßt. 500 Euro habe jeden von ihnen die Überfahrt gekostet. Das ist gerade einmal halb soviel, wie die Senegalesin Fatima bei ihrem illegalen Einreiseversuch nach Spanien vor zwei Jahren den Schleusern zahlen mußte. Damals hatte sie über eine senegalesische Schleusermafia versucht, mit einem motorisierten Boot von Tanger aus das spanische Festland zu erreichen. Die Aktion scheiterte, die marokkanische Küstenwache hatte das Boot damals aufgegriffen und nach Tanger zurückgebracht (JF 34/18).

Heute lebt sie in Marrakesch und hat das gleiche Problem wie Younis und Nayef. Aber das Risiko, die gefahrvolle Fahrt über den Atlantik anzutreten, ist ihr zu hoch. Fast nur junge Männer wählen diesen Weg. Landsleute hätten Bekannten von ihr angeboten, sie von der mit dem senegalesischen Festland verbundenen Insel Saint Louis aus per Motorboot für 700 Euro auf die Kanaren zu bringen. Aber die wollen nicht. „Dieser Weg ist ihnen zu gefährlich. Die Gefahr, dabei sein Leben zu verlieren, ist hoch“, sagt Fatima.

Dennoch nehmen dies zahlreiche Migranten in Kauf. Gerade haben vierzig von ihnen den Strand von Maspalomas an der Südspitze von Gran Canaria erreicht. Ein Spektakel, dessen Zeuge die JF wird. Ein Polizeihubschrauber ist in der Luft, überfliegt das betroffene Gebiet. Ein Boot der spanischen Küstenwache fährt in Ufernähe auf und ab, stoppt für einige Minuten, um erneut am besagten Strandabschnitt langsam entlangzufahren.

Die Wetterverhältnisse sind zur Zeit exzellent 

Polizei- und Rotkreuz-Wagen kommen herbei, rasen durch den Dünensand. Dann sehen es auch die wenigen am Strand verbliebenen Touristen. 40 Marokkaner und Schwarzafrikaner. Ausschließlich Männer. Im Gänsemarsch und von der Polizei eskortiert laufen sie über den Strand. Nur wenige werden Augenzeuge dieses Vorgangs. Denn jetzt, da die Sonne untergegangen und die letzten romantischen Sunseterinnerungsfotos im Handy abgespeichert sind, haben sich die coronabedingt ohnehin wenigen verbliebenen Pauschalurlauber längst zu den Abendbuffets ihrer Hotels aufgemacht.

Während in den Luxusanlagen Wein und Champagner fließen, reichen Rettungshelfer den Migranten Plastik-Wasserflaschen gegen eine mögliche Dehydrierung auf See. Im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht erreicht die Gruppe die befestigte Strandpromenade, wo sie die Polizei zunächst festsetzt. Zugangsstraßen werden abgesperrt, die Angekommenen von der Öffentlichkeit abgeschirmt.

Szenen wie diese geschehen derzeit fast täglich auf den Kanaren, die sich zum neuen Hotspot für Migranten entwickelt haben. Allein in diesem Jahr sind bereits knapp 20.000 von ihnen auf den Atlantik-Inseln, hundert Kilometer von der westafrikanischen Küste entfernt, angekommen. Fast zehnmal so viele wie in den Jahren zuvor. Allein in der vergangenen Woche kamen mehr als 2.000 auf den Kanaren an.

Die Gründe: zum einen die Wetterverhältnisse. Winde und Temperaturen lassen eine Überfahrt über das Mittelmeer zu dieser Jahreszeit kaum noch zu. Darüber hinaus werden die bisherigen Hotspot-Routen im östlichen und zentralen Mittelmeer inzwischen konsequenter kontrolliert als noch in den Jahren zuvor.

Wohl auch das dürfte ein Grund dafür sein, weshalb dieser Tage die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ins Visier der Kritik der radikalen Linken geraten ist. Deren Vorwurf: Die Grenzschützer würden insbesondere in der Ägäis sogenannte Pushbacks durchführen. Damit sind Einsätze gemeint, bei denen Migrantenboote in EU-Gewässern ohne Prüfung eines Asylanspruches über die Außengrenze der Europäischen Union zurückgeschoben werden.

Eine Anschuldigung, die die Agentur jedoch entschieden zurückweist. Konkrete Beweise für diesen Vorwurf lägen der Behörde  nicht vor. Migrantenboote abzufangen und sie aufzufordern, ihren Kurs zu ändern, seien dagegen durch die EU-Verordnung zur Überwachung der Seeaußengrenzen gedeckt.

Protestkundgebungen der Einheimischen

Doch während man sich auf den bisherigen Hotspot-Inseln wie Lesbos in Griechenland oder Lampedusa in Italien inzwischen auf die Situation eingestellt hat, mangelt es auf den Kanaren noch an der entsprechenden Infrastruktur für die Bewältigung dieses größten Migrantenstroms auf die Inselgruppe seit 2006.

Entsprechend gering sind die Kapazitäten zur Unterbringung der Migranten. So lebten an manchen Tagen 2.600 Migranten unter prekären Bedingungen im „Hafen der Schande“ des wenige Kilometer von Maspalomas entfernten Ortes Arguineguín. 

Übergangsweise werden die Migranten nun in coronabedingt leerstehenden Hotels untergebracht. Eines davon ist das Hotel Waikiki in dem Touristen-Hotspot Playa del Ingles. Eine Schranke versperrt den Weg zum Hoteleingang. Daneben bewacht Sicherheitspersonal das Gebäude. Schwarzafrikaner stehen und sitzen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, schlagen sich die Zeit tot. Andere Migranten sitzen auf den Balkonen ihrer Hotelzimmer.

Eine Szenerie, die explosiven sozialen Sprengstoff birgt. „Wir können unsere Häuser und Wohnungen nicht mehr bezahlen, und die werden hier kostenlos in Vier-Sterne-Hotels untergebracht“, klagen Einheimische in Gesprächen mit der JF. Insgesamt 17 Hotels haben inzwischen Migranten aufgenommen. „Im Katastrophenfall werden wir in Turnhallen untergebracht. Warum geschieht das nicht auch bei den Migranten?“ fragt sich auch ein Restaurantbesitzer in Maspalomas, der zudem nicht nachvollziehen kann, „warum man es nicht schafft, die Küsten der Kanaren ausreichend zu kontrollieren, um die Migration zu stoppen.“ An den Wochenenden kommt es mittlerweile regelmäßig zu Protestkundgebungen der einheimischen Bevölkerung.

Ein Zustand, dessen Brisanz auch den lokalen Behörden nicht verborgen geblieben ist. Mit Hochdruck werden derzeit mehrere Aufnahmelager auf militärischem Gebiet errichtet. Weitab von den Augen der Öffentlichkeit und nicht zugänglich. Womit die Migrationskrise einmal mehr aus den Augen und damit aus dem Sinn der Menschen wäre.

Während die sozialistische Regierung Spaniens offiziell noch erklärt, keine Migranten auf das Festland verlegen zu wollen, pfeifen es auf Gran Canaria bereits die Spatzen vom Dach, daß viele der illegal ins Land Gekommenen schon jetzt auf Staatskosten ausgeflogen werden, um die Kanaren zu entlasten und vor allem eines zu vermeiden: das Bild der Inselgruppe als sichere Urlaubsdestination zu gefährden.

Vor diesem Hintergrund räumten die spanischen Behörden den Hafen von Arguineguín auf Gran Canaria, in dem noch 600 Menschen lebten. Sie wurden in ein neues Lager, das auf Militärgelände in Barranco Seco in der Nähe von Las Palmas de Gran Canaria errichtet worden war, oder wiederum in nahe gelegene Hotels gebracht.

Doch auch auf eigene Faust ist der Flug zumindest auf das spanische Festland kein großes Hindernis mehr. Denn bei spanischen Inlandsflügen wird zwar die Identität des Passagiers überprüft, nicht aber sein Aufenthaltsstatus. Das ist bei internationalen Flügen anders. Dennoch sagt die hohe Polizeipräsenz am Flughafen von Las Palmas, wie auch die bei unserer Rückkehr am deutschen Flughafen, einiges darüber aus, wie stark sich die Migrationskrise auf den Kanaren verschärft.