© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Der Rädchen-Gedanke entmenschlicht zu allen Zeiten
Ausnahmezeiten: Ein Essay von Hannah Arendt verweist auf Gefahren eines schleichenden Abgleitens in Unrechtsverhältnisse
Felix Dirsch

Die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) wird nicht selten als „Denkerin der Stunde“ (Richard J. Bernstein) betrachtet. Etliche der von ihr behandelten Themen muten so an, als wären sie für aktuelle Debatten geschrieben: Staatenlosigkeit und Flüchtlinge; das Recht, Rechte zu haben; Rassismus und rassistische Segregation; Wahrheit und Lüge im politischen Kontext und einiges mehr. Auch im Medium Film feierte die „ewige Hannah“, über die 2020 eine größere Ausstellung in Berlin stattfand, die in der Bundeskunsthalle in Bonn 2021 fortgesetzt werden soll, einen erstaunlichen Erfolg.

Die 2018 in deutscher Sprache erschienenen Überlegungen „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?“ der deutsch-amerikanischen Gelehrten fand in den letzten Monaten viele Rezipienten. Diese Aufnahme hat primär wohl mit einem im Kontext der Corona-Maßnahmen verstärkt wabernden Diktatur-Begriff zu tun. Man kann darüber streiten, ob eine solche terminologische Zuspitzung angemessen ist. Jedenfalls sind die Inhalte der Schrift vor dem Hintergrund gegenwärtiger Ereignisse zu prüfen, wohlwissend, daß ein Gesundheitsregime wie das gegenwärtige, autoritär oder nicht, in der Geschichte kaum Vorbilder findet, jedenfalls nicht solche, die man eins zu eins auf die heutige Lage anwenden könnte.

Interpretation des Eichmann-Prozesses

Arendt verfaßte diesen ihren Text Mitte der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der Diskussion über ihren „Bericht über die Banalität des Bösen“, der eine eigenständige Interpretation des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem bietet. Daß sie den NS-Schreibtischmörder nicht als Monster darstellte, haben ihr viele verübelt. Es handele sich bei dem Täter um ein Rädchen im Getriebe, bei dem sich Arendt nicht vorstellen konnte, daß er auch nur eine der vielen Maßnahmen, die er angeordnet hat, Auge in Auge mit den Opfern hätte exekutieren können. Am Vorliegen schwerer Schuld ändert dieser Befund nichts. 

Arendt kennt angesichts derartiger Strukturen die Ausreden der Täter: Hätte Eichmann die Anordnungen nicht weitergeleitet, so hätten sich zahllose andere gefunden, die im Sinne der obersten Machthaber gehandelt hätten. Letztlich sei nicht der Einzelne schuld, sondern das System. Zu klären ist dann aber die Frage, wie und warum das jeweilige Individuum Teil des Systems geworden ist – und andere nicht oder nicht in gleicher Weise. Als weitere Exkulpationsstrategie nach 1945 erscheint der Rekurs auf das faktisch-positive Gesetz, dessen Befolgung unter Zugrundelegung naturrechtlicher Normen aber Unrecht darstellt.

Arendt hat sich bereits in anderen Veröffentlichungen Gedanken über eine angemessene Haltung in Unrechtsverhältnissen gemacht. In einer langen Traditionslinie bezieht sie sich auf Varianten zivilen Ungehorsam. So kann in einem totalitären System schon resistentes Verhalten Widerstand darstellen.

Die intensive Rezeption des Aufsatzes ist auch ein Ergebnis der differenzierten Analysen der Politiktheoretikerin, die deutlich über das NS-Regime und dessen Gewaltverbrechen hinausgehen. Sie unterscheidet die totalitäre Diktatur im 20. Jahrhundert von Form und Inhalten der römischen Vorläuferin. Denn diese historische Spielart war eine Notstandsmaßnahme im Rahmen verfassungsmäßiger Herrschaft.

Diktatur ist nicht gleich Diktatur

Noch lange nach dem Untergang Roms erinnerte man sich an die Ausnahme aufgrund eines Kriegsfalles oder Katastrophenzustandes. In solchen Zeiten erkennt Arendt, unabhängig von den konkreten Umständen, die Gefahr, daß Bürger ihre Freiheiten (oder wenigstens einen Teil davon) verlieren. Dabei ist es egal, ob dieser Verlust infolge von Anordnungen einer zivilen oder militärischen Macht erfolgt. Die Autorin fügt hinzu, daß das Privatleben und unpolitische Betätigungen von derartigen Einschränkungen nicht unbedingt betroffen sein müssen. In vielen historischen Fällen lief das Leben für einen Großteil der Bewohner wie gewohnt weiter. Sogar eher milde Repressionssysteme hätten sich als erheblich freiheitsfeindlich erwiesen. Diese seien jedoch auch von kritischen Zeitgenossen schwerer wahrzunehmen, weil Massenverbrechen nicht zur Physiognomie des Systems zählten. Unterdrückungsmaßnahmen verliefen in der Regel im verborgenen.

Arendt hat in diesem Fall Formen faschistischer Militärregierungen, deren Rechtsbewußtsein in toto stark verkümmert ist, im Gegensatz zu vollentwickelten Varianten totalitärer Herrschaft im Blick. Diktatur ist nicht gleich Diktatur, zumal Demokratie und Diktatur keineswegs so sehr im Widerspruch stehen müssen, wie es die Idealtypik gern herausstellt. Es herrschen öfter feine, aber gleichwohl nicht unwesentliche Abstufungen. Das Abgleiten in Tyrannei und Unrechtsregime verlaufe oft unmerklich.

Bei genauerer Betrachtung von Arendts Argumentation sind einige Parallelen zu aktuellen Diskursen auffällig: Bestimmte Wesenszüge des Ausnahme- und Gesundheitsregimes werden gern mit der Diktatursemantik unterlegt. So definiert der Duden „Diktatur“ als „unumschränkte, andere gesellschaftliche Kräfte mit Gewalt unterdrückende Ausübung der Herrschaft durch eine bestimmte Person, gesellschaftliche Gruppierung, Partei o.ä. in einem Staat“.

Eine Abstufung von Macht und Gewalt, die neben vielen Autoren auch Arendt in einer vieldiskutierten Abhandlung vorgenommen hat, erlaubt auch eine inhaltliche Konturierung von Diktatur, die ohne physische Gewaltanwendung auskommt. So verweist der Publizist Stefan Schubert in seiner Schrift „Vorsicht Diktatur!“ auf subtile Unterwerfungsmethoden wie „Framing“ und „Nudging“.

Auch viele, die einer voreiligen Anwendung des Diktatur-Begriffs kritisch gegenüberstehen, wurden stutzig, als das „Bevölkerungsschutzgesetz“ unlängst neues Öl ins Feuer gegossen hat. Abgesehen von der Wahrscheinlichkeit erheblicher Grundrechtseingriffe irritiert die panikerzeugende Propaganda regierungsnaher Medien, die auf Hoheit bei der Übermittlung gesundheitsrelevanter Informationen pochen. Die Corona-Krise kann sich durchaus als „Sargnagel der Demokratie“ (Schubert) erweisen. Moderne digitale Überwachungssysteme und die staatliche Möglichkeit, Ausnahmezustände in Normalität zu verwandeln, indizieren lediglich zwei Beispiele für einen solchen Befund.

Hannah Arendt kann die Nachgeborenen in einer stark veränderten Welt nur in allgemeiner Hinsicht Verantwortungsbewußtsein und Zivilcourage lehren. In ihrer Nachfolge schlägt die österreichische Juristin Monika Donner in ihrem für Januar 2021 angekündigten Buch „Corona-Diktatur“ friedlichen und passiven Widerstand vor. Die nahe Zukunft wird zeigen, inwieweit die drastischen Warnungen gerechtfertigt sind.

Hannah Arendt: Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? Piper Verlag, München 2018, broschiert, 96 Seiten, 10 Euro