© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Es wird Zeit für junge, wilde Autoren
Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre & Co.: Wo ist sie geblieben, die deutsche Popliteratur?
Gil Barkei

Als vor 25 Jahren Christian Krachts Debütroman „Faserland“ erschien, verhalf der Schweizer Publizist und Schriftsteller der deutschsprachigen Popliteratur zu einer Wiederbelebung. Die Geschichte des namenlosen, ständig rauchenden Ich-Erzählers, der spontan von Sylt bis zum Zürichsee exzeßreich quer durch Deutschland reist, schaffte es bis in den Deutschunterricht und ebnete vielen Nachwuchsautoren den Weg. Der Scheitel, Jackett und Barbourjacke tragende Protagonist aus gutem Hause, der sich auf seiner Nord-Süd-Tour unter anderem über die SPD, Betriebsräte und die linksliberale Kreativszene lustig macht, kam gerade auch bei vielen jungen Konservativen gut an, die mit den ideologisch angehauchten Popliteraten der sechziger Jahre und ihrem Bruch mit der bildungsbürgerlichen Hochkultur wenig anfangen konnten. Dabei zeigte Kracht 1995 schonungslos die Reste eines alten westdeutschen (Groß)Bürgertums, dessen Nachwuchs mit Autotelefonen, Markenklamotten, Champagner und Privatschulabschlüssen geradewegs in den globalen Wirtschaftsliberalismus übertritt und das Erbe zwischen Partys und ausgedehnten Reisen verpraßt – und trotzdem unglücklich, tieftraurig wirkt.

Stuckrad-Barres Absturzbeichte

Jedoch kam Kracht eigentlich zehn Jahre zu spät. Bereits 1985 zeichnete der damals erst 21jährige US-Amerikaner Brad Easton Ellis in „Less than Zero“ („Unter Null“) junge Schüler und Studenten, die dank reicher Eltern zwar viel besitzen, aber zwischen MTV-Dauerbeschallung, Drogenmißbrauch und schnellem Sex wenig haben, für das es sich zu leben lohnt. Mit schicken Autos fahren die Vorboten der „Fun-Generation“ durch die Villenviertel Kaliforniens auf der Suche nach dem nächsten Kick, aber verlieren sich selbst dabei immer mehr. Die kühle, sterile Welt des Scheins nach außen bei gleichzeitigem innerem Verfall, der kaum empathische zwischenmenschliche Beziehungen mehr zuläßt, treibt Ellis später in „American Psycho“ (1991) auf die Spitze.

Wohin es führen kann, wenn man selbst populär und so ähnlich wird wie die Protagonisten in „Unter Null“ oder „Faserland“, zeigt Benjamin von Stuckrad-Barre in seiner 2016 erschienenen Drogen- und Absturzbeichte „Panikherz“. Der gebürtige Bremer prägte als Musikjournalist (Rolling Stone), Plattenlabel-Mitarbeiter (Motor Music) und TV-Autor (Harald Schmidt Show) die Popkultur auf mehreren Kanälen zumindest aus dem Hintergrund. Mit seinem Debütroman „Soloalbum“ (1998), der fünf Jahre später mit Nora Tschirner und Matthias Schweighöfer verfilmt wurde, drückte er sogar dem deutschen Kino seinen Stempel auf, wie mehrere Til-Schweiger-Produktionen bis heute bezeugen.

Wenn von Stuckrad-Barre jedoch in „Panikherz“ beschreibt, wie er Brad Easton Ellis’ Twitter-Experimente beobachtet oder mit ihm nachmittags in Los Angeles ins Kino geht und im dazugehörigen leeren Café Salate ißt, werden die gefeierten Autoren endgültig selbst zu trostlosen Figuren einer wohlstandsverwahrlosten Welt, die sie einst beschrieben haben.

Aus der 1999 beschriebenen „Tristesse Royale“, für die sich Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Joachim Bessing als „popkulturelles Quintett“ im Berliner Hotel Adlon trafen, ist längst eine Tristesse Banale geworden. Und so will auch von Stuckrad-Barre in „Panikherz“ Ellis „schütteln: ‘Laß doch diesen Podcast-Blödsinn. Schreib jetzt endlich wieder so ein Buch, das die Gegenwart erklärt und vernichtet. Gib uns Weltverständnis-Munition. Dazu warst du doch mal in der Lage!’“

Ein Haltungsschleier verfälscht die Realität

Doch wer ist dazu heute noch in der Lage? Kracht? Dieser leitete schon 2001 mit seinem Roman „1979“ das Ende des kurzen Zeitfensters der modernen deutschen Popliteratur ein. In dem Buch läßt er – der regelmäßig weltweit den Wohnort wechselt – die ganze ausschweifende egoistische Dekadenz im westlich orientierten Teheran des Schahs angesichts der aufkeimenden Islamischen Revolution untergehen. Seine Hauptfigur, einen schwulen Dandy, schickt er zur esoterischen Selbstfindung nach Tibet, wo er von den Kommunisten Chinas ins Straflager zur Zwangsarbeit und Besserung gesteckt wird. Welch anklagendes Kontrastprogramm: religiöser und politischer Totalitarismus als provokante Antwort auf totalen Konsum.

In „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008) macht Kracht gleich seine eigene Heimat, die Schweiz, zu einem sowjetkommunistischen Staat, der seit Jahrzehnten in unüberschaubaren Bergbunkern einem Krieg mit dem faschistischen deutschen Nachbarn standhält und dafür schwarzafrikanische Soldaten aus sozialistischen Schutzgebieten nach Europa holt. Angesichts symbolischer Parallelen zu heutigen linksradikalen Schlepper-NGOs, die afrikanische Migranten für ihre Zwecke über das Mittelmeer schleusen, könnte man hier noch ein gewisses dystopisches Zukunftsgefühl sehen, aber mit „Imperium“ (2012) und „Die Toten“ (2016) folgten Geschichten, die in der Vergangenheit, im Kolonialismus und in den dreißiger Jahren spielen.

Die heutige zeitgenössische Literatur ist kaum mehr fähig zu kühlen, bitteren und unbeschnitten humorvollen Alltagsbeobachtungen, da ein semantischer Haltungsschleier über allem liegt und die Realität verfälscht. Auch die deutschsprachige Belletristik ist ein Opfer des von Michael Esders beschriebenen „Sprachregimes“ (JF 30-31/20) und hat sich größtenteils der gesellschaftspolitischen Verklärung angeschlossen. Aus Popliteratur ist Agitprop-Literatur à la Stefanie Sargnagel geworden. Es wird Zeit für junge, wirklich wilde Autoren, die die unbequemen Wahrheitsfacetten der multikulturellen und internationalen Gegenwart in Prosa pressen.

Ob Kracht hierbei vielleicht doch wieder eine Tür aufstoßen kannt, zeigt sich im März kommenden Jahres. Dann erscheint sein nächster Roman „Eurotrash“, der bei der „Faserland“-Geschichte vor einem Vierteljahrhundert in Zürich ansetzt.