© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Dem Frühling folgte schnell der Winter
Vor zehn Jahren löste die Selbstverbrennung eines tunesischen Gemüsehändlers die Arabische Revolution aus
Thomas Schäfer

Am 17. Dezember 2010 kam es in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid 200 Kilometer südwestlich von Tunis zu einem Ereignis, welches sich als der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings erweisen sollte, der einen Tornado auszulösen vermag. Wobei der letztere nicht nur große Teile der arabischen Welt verheerte, sondern auch in Europa möglicherweise nie wieder zu beseitigende Schäden verursachte. An jenem Tage wurde der 26jährige Gemüsehändler Mohamed Bouazizi wie schon mehrmals zuvor von der Obrigkeit schikaniert. Zuerst schloß die Polizei seinen mobilen Marktstand wegen angeblich fehlender Verkaufslizenzen und konfiszierte sämtliche Waren samt Waage, dann demütigten ihn die Beamten im Rathaus, wo er Beschwerde einlegen wollte. Das daraus resultierende Gefühl von totaler Ohnmacht gegenüber dem Staat und grenzenlosem Gram über den Verlust der einzigen Einkommensquelle der gesamten Familie veranlaßte Bouazizi dazu, sich vor dem Verwaltungsgebäude von Sidi Bouzid mit Benzin zu übergießen und anzuzünden.

Die Nachricht von der Verzweiflungstat des Tunesiers, an deren Folgen er schließlich nach qualvollen Wochen am 4. Januar 2011 im Krankenhaus von Ben Arous starb, führte sofort zu spontanen öffentlichen Solidaritätsbekundungen, aus denen dann größere Protestdemonstrationen auch außerhalb von Sidi Bouzid erwuchsen, welche die Sicherheitskräfte wie üblich mit Gewalt aufzulösen versuchten. Doch diesmal wurden sie der Empörungswelle nicht mehr Herr – zu groß waren die Wut und die Frustration im Lande inzwischen geworden. 

Diese resultierten aus der immer offener zutage tretenden Unfähigkeit der kleptokratischen Elite in Tunis um den seit 1987 an der Macht befindlichen Quasi-Diktator Zine el-Abidine Ben Ali und dessen Familienclan, der einfachen Bevölkerung einigermaßen erträgliche Lebensbedingungen zu garantieren: Jeder dritte Tunesier lebte unter der Armutsgrenze, die bei umrechnet zwei US-Dollar pro Tag lag. Dazu kamen die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit von rund 35 Prozent, stark gestiegene Lebensmittel- und Energiepreise, eine erbärmliche Infrastruktur außerhalb der Hauptstadt und der touristischen Zentren am Mittelmeer sowie die allgegenwärtige Korruption, unter der auch Bouazizi gelitten hatte: Wäre der Gemüsehändler in der Lage gewesen, Schmiergeld an die Polizei zu zahlen, hätte diese ihn wohl kaum behelligt. 

Am Ende des Aufstandes in Tunesien gegen das alte System, der mindestens 78 Menschen das Leben kostete und Schäden in Höhe von drei Milliarden Dinar verursachte, stand der Sturz von Ben Ali, welcher am 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien flüchtete, und die nachfolgende, äußerst mühsame Etablierung einer einigermaßen funktionierenden Demokratie – übrigens die einzige in der gesamten arabischen Welt von heute. Unmittelbar nach Bouazizis Tod schwappte die Protestbewegung, für die der US-amerikanische Politologe Marc Lynch am 6. Januar 2011 die in jeder Hinsicht vorschnelle Bezeichnung „Arabischer Frühling“ prägte, auf die meisten anderen arabischen Länder über, denn in diesen lebten die Menschen oftmals unter den gleichen prekären Bedingungen. Daher lautete der Schlachtruf letztlich genau wie in Tunesien: „Al-shaab yurid isqat al-nizam!“, zu deutsch: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ Allerdings sollte der Ausgang der Rebellion in den 19 der 22 Staaten der Arabischen Liga, welche 2011 außerdem noch von Massenprotesten erschüttert wurden, schließlich ein anderer sein als in der Maghreb-Republik.

Aus dem Staatsversagen resultierte der Staatszerfall

Zwar endete nun bald auch die Ära der Langzeitherrscher Muhammad Husni Mubarak in Ägypten und Ali Abdullah Salih im Jemen, aber das führte zu keiner echten Demokratisierung dort. Anderswo hingegen schlugen die Ancien régimes den Widerstand gleich wieder nieder oder ließen ihn durch einige kleinere politische und ökonomische Zugeständnisse ins Leere laufen, so wie beispielsweise in Algerien, Bahrain, Jordanien, Kuwait, Marokko, Mauretanien, dem Oman und Saudi-Arabien. Und in Libyen und Syrien brachen gar – freilich nicht ohne das äußerst unkluge Zutun des Westens – Bürgerkriege aus, die noch heute toben.

Der Rückzug mancher arabischer Potentaten verursachte ein Machtvakuum: Aus dem Staatsversagen resultierte der Staatszerfall. Dazu kam die für die arabische Welt typische toxische Mischung aus politischer und religiöser Zerrissenheit bei gleichzeitig hoher Gewaltaffinität, die nach dem Ende der Pax autocratica immer stärkere Wirkung entfaltete. Vor diesem Hintergrund vollzog sich der Aufstieg des Islamischen Staates. Der erneuerte schließlich am 29. Juni 2014 das Kalifat und überschwemmte die gesamte arabische Welt mit Dschihadisten. Hierdurch mutierte der Arabische Frühling endgültig zum Arabischen Winter. Und das hatte auch Konsequenzen für Europa, wohin Millionen vorwiegend muslimischer Migranten strömten und dadurch eine der schwersten gesellschaftlichen Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auslösten, welche bis heute nicht bewältigt wurden. 

Heute mehren sich die Berichte über ein erneutes Anschwellen der Protestbewegung in der arabischen Welt. Manche Beobachter werten das naiverweise als Hinweis darauf, daß nun endlich der wirkliche Arabische Frühling anbreche, andere sehen darin die Vorzeichen einer nie dagewesenen Katastrophe, nämlich des „Dreißigjährigen Krieges der Araber“. Sollte diese Dystopie wahr werden, dann dürfte der Migrationsdruck auf Europa noch einmal exponentiell zunehmen, was die weitere Islamisierung unseres Kontinents samt allen damit verbundenen Konsequenzen zur Folge hätte.