© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Der konservative Aufklärer
Goethes staatsmännisches Vorbild: Zum 300. Geburtstag des „herrlichen“ Justus Möser
Wolfgang Müller

Theodor Heuss, der erste und bis jetzt auch einzige deutsche Bundespräsident, der als Mann von Bildung gelten darf, rühmte Justus Möser, dessen Geburtstag sich derzeit zum 300. Mal jährt, als „Idealfigur der menschenführenden Verwaltungskunst“. So hörte sich 1952, kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, das einem Repräsentanten des Kriegsverlierers gerade noch erlaubte Lob für eine historische Figur an, der man zwischen 1933 und 1945 Elogen gewidmet hatte als „Verteidiger germanischer Lebenswerte“ (Werner Pleister, 1935), „Urbild völkisch deutschen Wesens“ (Peter Klassen, 1936) und Urheber der „Wendung vom aufgeklärten zum historisch-individualistischen Volksbegriff“ (Ernst Rudolf Huber, 1944). Und dessen Werk kulturpolitisch derart hoch im Kurs stand, daß das Reichswissenschaftsministerium 1943, ungeachtet  der unter dem brutalen Diktat des „totalen Krieges“ verfügten Einschränkungen, Geld und streng rationiertes Papier für eine vierzehnbändige historisch-kritische Möser-Ausgabe bewilligte, die freilich erst 1988 zum Abschluß kam.

Nachahmung fremder Regeln ist keine Kultur

Theodor Heuss, ein bei Lujo Brentano, der dem Osnabrücker Patriarchen als „Vater der preußischen Agrarreform“ Reverenz erwies, promovierter Nationalökonom, wußte natürlich, daß er vor dem Hintergrund der NS-Rezeption Möser als „Verwaltungskünstler“ deutlich unter Wert anpries. Hatte doch der im Freitod endende Vorkämpfer der deutschen Einheit, Friedrich List, Wegbereiter eines Faches, dessen akademische Vertreter bis hin zu Ludwig Erhard ihren eigenen, spezifisch deutschen, nie die soziale Dimension außer acht lassenden Stil kultivierten, über Wirtschaft und Gesellschaft nachzudenken, sich selbst als den „zweiten Möser“ bezeichnet. Sich damit in eine geistige Ahnenreihe stellend, der dann in der frühen Bundesrepublik, wenn auch bei weitem noch nicht in der gegenwärtig hochprozentig neurotischen Dosierung, das Odium des irgendwie „Belasteten“ anhaften sollte. 

Daß jedes Volk seinen eigenen Weg zur Entfaltung seiner Kräfte gehen müsse, daß dafür kein anderer, nach Lage der damaligen Dinge französisch-englischer Schnittbogen zu akzeptieren sei, daß Kultur nicht auf der Nachahmung fremder Regeln, sondern auf der Entfaltung der eigenen Art beruhe, war Alpha und Omega der Schriften des Nationalpädagogen Möser. Denen ein Chronist vom Kaliber Karl August Varnhagen von Enses (1785–1858) bescheinigte, daß seit der „Befreiung von der [französischen] Fremdherrschaft [1813/14] im deutschen Staats- und Volksleben nichts Wichtiges vorgegangen, wobei nicht die Ideen Mösers mit tätig gewesen, ja sich als ausgesprochene Richtungen mehr oder minder geltend gemacht hätten“.

Wer verbirgt sich hinter diesem von Generation zu Generation schwankenden Urteil? Ausweislich des ersten biographischen Anscheins lediglich ein knorriger Jurist aus der westfälischen Provinz. Justus Möser wurde am 14. Dezember 1720 in Osnabrück als Sohn eines Kanzleidirektors und der Tochter eines zeitweiligen Bürgermeisters der Stadt quasi mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren, dessen Karriere dank dieser Herkunft früh gesichert war. Schon während des in Jena und Göttingen absolvierten Studiums, 1741, erhielt Möser die Anwartschaft auf den Posten des Sekretärs der Osnabrücker Ritterschaft, ein Amt, das er, ohne formellen Studienabschluß, 1744 antrat. 

Der daneben freiberuflich tätige junge Anwalt stieg 1747 sogar zum Advocatus patriae auf, also zum Vertreter dieses Kleinstaates in allen Rechtsangelegenheiten und 1756 zugleich zum Syndikus der Ritterschaft. Während des Siebenjährigen Krieges führte er die Kontributionsverhandlungen mit den jeweils das Fürstbistum Osnabrück besetzenden Armeen. Aufgrund dessen eigentümlicher, im Westfälischen Frieden 1648 fixierten verfassungsrechtlichen Konstruktion, der Alternativsukzession, nach der abwechselnd ein katholischer und ein protestantischer Bischof das Hochstift regierten, bestimmte Georg III. von England 1763 seinen halbjährigen Sohn, den Herzog von York, zum Nachfolger des 1761 verstorbenen katholischen Fürstbischofs. 

Da dessen Vertreter zwei landfremde, mit dem einheimischen Recht unvertraute Geheime Räte waren, lag die Regierung bis 1783, bis zur Volljährigkeit des Herzogs, de facto in Händen Mösers. Der weiter als Syndikus der evangelischen Ritterschaft, dem ständischen Widerpart der Regierung, fungierte, also befangen aufgrund einer aus heutiger Sicht unmöglichen Interessenkollision, als Vertreter von Regierung und Opposition tätig war. In dieser Doppelstellung agierte er in einem Gewitter von Spannungen, bewährte sich aber als unparteiisch vermittelnder Sachwalter des Gemeinwohls. „Kaum ein Großer“, so formulierte es 1957 Eberhard Crusius in dem von Theodor Heuss mit herausgegebenen Sammelwerk „Die großen Deutschen“, „hat auf so engem Raum gewirkt, alles Wesentliche aus diesem gezogen und auf diesen bezogen wie Möser“. 

Mit dieser „Hinwendung zum kleinen Schauplatz“, seinem „Ja zur Provinzialität“, das Renate Staufs bahnbrechende Studie zu „Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität“ (Tübingen 1991) herausgearbeitet hat, antwortete der konservative Aufklärer auf den um 1760 in der deutschen Gelehrtenrepublik lauter werdenden weinerlichen Klagegesang über das Fehlen einer Nationalkultur: Weder verfügten die „Teutschen“ über eine Hauptstadt wie Paris oder London, die ihnen als kulturelles Zentrum diene, noch über ein Nationaltheater, noch über eine Öffentlichkeit, deren Literatur- und Kunstgeschmack sich von fremden ästhetischen Vorgaben emanzipiert hätte. 

In diesem Lamento verdichtete sich bereits das bis heute für den Vertreter der Modemarke „kritischer Intellektueller“ unentbehrliche „Leiden an Deutschland“, hob die Litanei über die deutsche Rückständigkeit an, zeichnete sich das Trauma der Kulturunterlegenheit gegenüber dem Westen ab und brach die kosmopolitische Obsession durch, um den Preis widerwärtigster Unterwürfigkeit „weltoffen“ sein zu wollen.

Der Weltgewandte bleibt stets der Provinz verhaftet

Der „erste große europäische Reaktionär“ (Carlo Antoni, 1951) und „Prototyp eines bewußten Konservatismus vor 1789“ (Klaus Epstein, 1968) sah hingegen in diesem scheinbar nur von Schwäche kündenden Partikularismus eine politische und kulturelle Stärke der Deutschen. Ein langer Aufenthalt in London hatte ihn 1763 gelehrt, daß es weder mit den Vorzügen des britischen Parlamentarismus noch denen der Kultureinrichtungen des Inselvolkes allzu weit her war. Die deutsche Misere lag für den fest im Heimatboden verwurzelten Staats- und Verwaltungsmann daher nicht in einer faktischen Rückständigkeit, sondern in der falschen, durch keine Auslandserfahrung korrigierten Überzeugung von der scheinbaren Vollkommenheit der Staats- und Kulturmodelle des Westens.

Solche Ansichten formulierte kein bornierter Provinzler, der selten über das Geviert eines kaum 120.000 Einwohner zählenden Duodezreiches hinauskam. Möser hatte früh die westeuropäische Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen und mit staunenswertem Fleiß verarbeitet, ließ sich von Hume und Shaftesbury genauso nachhaltig beeinflussen wie von Voltaire, Rousseau und Montesquieu. Doch hielt er diese Ideenwelt für praktisch nur insoweit verwertbar, wie sie seinen Wirklichkeitssinn beleidigte und ihm demonstrierte, was keinesfalls auf die deutschen Verhältnisse übertragen werden sollte. 

Weder der schematische, in Allgemeinheiten schwelgende Rationalismus noch das individualistische, materialistische und in der Konsequenz atheistisch-nihilistische Menschenbild der westlichen Aufklärung hielt er für die passende Antwort auf die ihn bedrängenden Fragen nationaler Selbstbestimmung: Wer sind wir? Wer wollen wir sein, wie wollen wir zusammenleben? Angemessene Antworten darauf, dessen war Möser sich sicher, finde nur, wer sie aus den historischen, ökonomischen, ethnologischen und geographischen Gegebenheiten einer notwendig stets begrenzten nationalen Existenz ableitete. Das schloß die ihm besonders suspekte „neumodische allgemeine Menschenliebe“ aus. 

Der durchaus vom Geist der Aufklärung durchdrungene Volkspädagoge, der sich seit den 1760ern im lokalen Intelligenzblatt mit „Patriotischen Phantasien“ und zudem als Verfasser einer die Nationalgeschichte im Regionalen spiegelnde, bis zurück zu germanischen „Urzuständen“ verfolgenden, erstmals das arbeitende Volk anstelle der Fürsten und ihrer Haupt- und Staatsaktionen zum „Helden“ der Historie wählenden  „Osnabrückischen Geschichte“ (1768) ans patriotisch erwachende Publikum wandte, wollte helfen, Bürger, nicht „Menschen“ zu erziehen. Denn Möser sah voraus und sollte es kurz vor seinem Tod im Januar 1794 noch erleben, wie im Frankreich der Jakobinerherrschaft der den absolutistischen überbietende demokratische Despotismus im Namen der „allgemeinen Menschenrechte“ sein terroristisches Potential entladen könnte. 

Auch Goethe verehrte den Geschichtsschreiber Möser

Als der junge Frankfurter Rechtsanwalt Johann Wolfgang Goethe im Dezember 1774 eine Art Bewerbungsgespräch mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar führte, lag nicht von ungefähr der erste, druckfrische Band der „Patriotischen Phantasien“ zwischen ihnen auf dem Tisch. Goethe hatte vom Geschichtsschreiber Möser und dessen Mitteilungen über das mittelalterliche Faustrecht bereits für sein Götz-Drama profitiert. Seitdem verehrte er den „herrlichen Möser“ und ließ sich schließlich von dessen politisch-historischer, „evolutionärer“ Denkweise in seinem reformerischen Wirken als Minister im Kleinstaat Sachsen-Weimar genauso entscheidend beeinflussen wie von dessen Vorliebe für den deutschen Partikularismus, da er „gerade die Menge kleiner Staaten als höchst erwünscht zur Ausbreitung der Cultur im Einzelnen“ betrachtete.