© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Die Eule der Minerva setzt zum erneuten Flug an
Für Merkels Flüchtlingspolitik und gegen Populismus: Der Philosoph Markus Gabriel entwirft ein linksliberales Konzept einer „Neuen Aufklärung“
Felix Dirsch

Markus Gabriel hat als jüngster Philosophieprofessor in Deutschland Schlagzeilen gemacht. Seine erkenntnistheoretischen Auffassungen, die den moralischen Realismus exponieren, richten sich primär gegen Werterelativismus und -nihilismus. Eine „Neue Aufklärung“ sieht er am Ende des dunklen Tales, das die Menschheit augenblicklich durchschreiten müsse. Zur Überwindung der Durststrecke hat die Philosophie Handlungsanweisungen zu geben.

Das grundlegende Argumentationsmuster ist einfach: Im Moment gebe es noch bösen Populismus und Rassismus, die beide das Ziel der Selbstabschaffung des Menschen verfechten. Dieser sei überdies durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz gefährdet. Aufgabe der Philosophie sei es demgegenüber, die unverhandelbaren universalen Grundwerte herauszustellen und in den Köpfen zu verankern. Der Weg zu diesem Ziel führe über die Kooperation von Wissenschaft, Politik und Ökonomie.

Gabriel folgt der regierungsamtlichen Linie

Die Schrift vereint ein Sammelsurium von mehr oder weniger begründeten Platitüden, die es darauf anlegen, möglichst auf die Spiegel-Bestsellerliste zu gelangen, was dem Autor gelungen ist: Angela Merkel ist nicht der „Führer“, sondern eine „gute Bundeskanzlerin“, weil sie Flüchtlinge aufgenommen hat und durch den Lockdown Menschenleben gerettet hat; soziale Identitäten sind Fiktionen; moralische Werte stammen nicht von Gott; Kinderschlagen war schon 1880, obwohl damals üblich, nicht richtig; Wertenihilismus ist schlecht, weil er die Wirklichkeit negiert; ein eingenisteter Zellhaufen stellt kein menschliches Leben dar. Die Liste läßt sich beliebig verlängern.

Interessanter als die abgedroschenen linksliberalen Litaneien sind die Ausführungen über „Corona“, hat diese Thematik doch vielfältigen ethischen Debatten eine ernste Grundierung verliehen. Zu erkennen ist sie gleich einem Brennspiegel am Dilemma der Triage. Gabriel folgt der regierungsamtlichen Linie und verbrämt sie moralisch: Der Lockdown habe Menschenleben gerettet – offensichtlich aber keine gekostet; diese Abwägung ignoriert er vollständig. Weiterhin jubelt er darüber, daß die Priorität des ökonomischen Imperativs gebrochen worden sei und Solidarität wenigstens kurzzeitig dominiert habe. Natürlich gibt es einige häßliche Botschaften aus der Ausnahmezeit. Zu ihnen zähle, daß die Hydra des Nationalismus ihr Haupt erhoben habe, sichtbar durch wochenlange Grenzschließungen. 

Außerdem sei der materialistische Globalismus an sein Ende gekommen. Überall also moralischer Fortschritt, der zu allgemeinem Fortschritt führt, wie der Autor suggeriert? Davon ist wenig zu erkennen. Enorm sind die Gewinne der Global Players wie Amazon während des öffentlichen Stillstands, beunruhigend hingegen die Vernichtung vieler kleinerer und mittlerer ökonomischer Existenzen. Weiter diskutiert Gabriel auch die Möglichkeit der „großen Transformation“.

Am Ende der Schrift entwirft ihr Verfasser eine „Ethik für alle“. Die abschließende Würdigung der politischen Resultate der Großen Koalition, von der Einführung der Homo-Ehe über Fortschritte im Rentensystem bis zur Flüchtlingsaufnahme, als konkrete Beispiele für den verheißenen moralischen Fortschritt wirken hingegen reichlich banal. Sie liegen unter dem Niveau eines philosophischen Entwurfes, der also auch in seinen ridikülen Seiten an die Worte des diesjährigen Jubilars Hegel erinnert: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Kein gutes Omen für einen Gelehrten, der in fast inflationärer Weise mit dem Kontrast von Licht und Dunkelheit hantiert und der bereits jetzt diejenigen hellen Stellen markiert, die von der Menschheit erst in einiger Zeit erreicht werden sollen.

Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein-Verlag, Berlin 2020, gebunden, 368 Seiten, 22 Euro