© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Der Flaneur
Viele Grenzen
Claus-M. Wolfschlag

Das waren noch Zeiten. Der Typ mit den gelben Haaren ein Jahr zuvor in der Supermarktschlange. „No Nations, No Borders“, bekannte er zeigefreudig auf seinem schwarzen T-Shirt. Seine pink gefärbte Freundin ergänzte mit dem Slogan „Refugees welcome“. Damit auch klar war, für wen die Grenzen abgeschafft gehören.

Lange ist’s her. Heute vor dem Supermarkt ist von den beiden nichts zu sehen. Stattdessen ein Bekannter am Telefon, Rechtsanwalt: „Da kannst du nichts machen, den Strafzettel mußt du zahlen.“ „Ich stand nur mit dem Reifen auf dem Bordstein, der Gehweg ist zwei Meter breit. Das soll ‘Parken auf dem Gehweg’ sein?“ antworte ich. 

Ein Teenager-Mädchen zieht kurz ihre Maske herunter und niest in meine Richtung.

„Ob fünf Zentimeter, 20 Zentimeter oder ein Meter ist egal. Der Gesetzgeber hat die Grenze am Bordstein festgelegt.“ Ich hatte das Auto der Stadtpolizisten noch gesehen und gerufen. Da gaben sie Gas. „Die haben irgendein Vergehen gesucht und konnten jetzt nichts anderes finden als den fünf Zentimeter überstehenden Reifen. Damit könnten sie die halbe Stadt aufschreiben.“ Doch mein Bekannter antwortet nur: „Irgendwann wird man nirgendwo mehr parken dürfen.“

Wir beenden das Gespräch. Die Grenze zur Maskenzone ist erreicht. Ich ziehe mir den Mundschutz über, als ich den Eingang passiere. „Maske, Sie müssen die Maske aufziehen“, ruft eine Kassiererin. Sie meint nicht mich, sondern einen sich entschuldigenden Rentner. Ein Teenager-Mädchen zieht vor mir hastig seine Maske herunter, niest kräftig in meine Richtung und zieht den Schutz wieder hoch. Grenzwertig. 

Nun aber zur Backtheke. Der junge, dicke Verkäufer legt meine drei Tortenstücke umständlich auf das Papptellerchen. Eine Frau schaut böse von der Seite zu mir herüber und dann auf den Boden. Ich war über die 1,5-Meter-Grenzlinie zur Theke getreten. Stadtpolizei, Strafmandat, denkt sie vermutlich. Ein Tortenstück fällt um, der Verkäufer schiebt es mit den Fingern zurück. „Ist jetzt leider etwas zermatscht“, sagt er. „Grenzdebil“, entfährt es mir.