© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Gitarre, Glocken und Gesang
„Querdenker“: Während Politik und Medien einseitig die „Gefahr von Rechts“ fokussieren, zeigt sich die Protestszene weit heterogener
Hinrich Rohbohm

Es ist nur ein kleines Grüppchen von knapp 50 Leuten, das sich auf dem Marktplatz vor der evangelischen Pauluskirche im nordrhein-westfälischen Hamm versammelt. Eine Frau mit Gitarre stellt sich vor sie, stimmt ein Lied an. „We Shall Overcome“. Wir werden es überwinden. Ein Song aus der linken Protestbewegung der sechziger Jahre, der von der amerikanischen Kommunistin und Friedensaktivistin Joan Baez stammt. Einige aus der Gruppe tragen gelbe Westen. „Mir reicht’s“, steht darauf. Andere haben sich Schilder mit Botschaften umgehängt. „Die DDR ging unter, weil das Volk aufstand. Die BRD geht unter, weil das Volk schläft“, ist da zu lesen. Eigentlich ein recht harmloses Grüppchen, das sich da versammelt hat, könnte man meinen. Dennoch sind neun Einsatzfahrzeuge der Polizei zugegen. Denn bei den Demonstranten handelt es sich um Leute aus der sogenannten „Querdenker“-Bewegung. 

Eine Szene, die das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz inzwischen als Beobachtungsobjekt einstuft. Die Gruppe würde sich radikalisieren und sei durch Extremisten unterwandert. Demnach lägen „hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung vor“, hatten Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) und die Verfassungsschutzpräsidentin des Landes, Beate Bube, in der vergangenen Woche in Stuttgart mitgeteilt. 

So ordne der Nachrichtendienst maßgebliche Akteure der „Querdenker“ der Reichsbürger-Szene zu, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland anzweifeln und demokratische sowie rechtsstaatliche Strukturen ablehnten. Auch Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretiker würden die seit Monaten gegen die staatlichen Corona-Einschränkungen auf die Straße gehenden Protestler zunehmend für ihre Zwecke instrumentalisieren. 

Bezogen auf das Grüppchen vor der Pauluskirche wirkt das auf den ersten Blick überzogen. Und auch das starke Polizeiaufgebot erweckt zunächst den Eindruck, als wolle man mit Kanonen auf Spatzen schießen. Doch genau dieser Eindruck scheint von seiten der sogenannten „Querdenker“ durchaus gewollt zu sein. 

Organisatoren der Proteste an Corona erkrankt?

Es sind neben dem Verbreiten von Verschwörungstheorien vor allem Versuche, das Vertrauen der Bürger in die staatlichen Institutionen zu erschüttern, die als Botschaften von der Bewegung ausgehen. Wie das funktioniert, wird im kleinen Maßstab auch in Hamm deutlich. 

Als die Gitarrespielerin ihr Lied beendet, soll eine Ansprache folgen. Doch der Redner muß schon nach den ersten Sätzen abbrechen. Mächtiges Glockenläuten von der Pauluskirche macht das Zuhören unmöglich. Ein Umstand, der den Protestlern gerade recht kommt. „Soviel zum Thema Mißbrauch des christlichen Glaubens“, ruft plötzlich jemand aufgebracht in die Menge. „Als gläubige Christin fühle ich mich diskriminiert“, schreit eine Frau aus der Gruppe. „Frieden, Freiheit, Demokratie“, skandieren daraufhin Teilnehmer wie zum Trotz. Tatsächlich handelte es sich nur um einen normalen Gottesdienst in der Kirche. Auch dem Redner kommt das Geläut gelegen: „Ich werde ein Gespräch mit dem Küster führen. Ich würde mir wünschen, daß bei jeder unserer Demonstrationen die Glocken zu hören sein werden.“ Und: „Ich werde es ertragen, daß man mich beleidigt und diskriminiert. Ich habe aber ein Problem damit, wenn die Leute hier vom Ordnungsamt mit Strafen belegt werden. Sprechen Sie mich an, ich weiß mich gegen Sie zu wehren“, wird der Redner kämpferischer, während einige Polizisten einschreiten, weil mehrere Protestler während der Rede immer wieder die Mindestabstände nicht einhalten und einige teils auf provokative Weise keine Masken tragen. 

Ein Umstand, der auch auf zahlreiche andere Demonstrationen der Bewegung zutrifft. Die Masche ist dabei stets die gleiche: Die Anmelder der Demonstrationen legen in Absprache mit der Polizei im Vorfeld ihrer Kundgebungen Regeln fest, die sie später brechen. Mindestabstände werden ignoriert, Masken nicht getragen. Schreitet die Polizei ein, sprechen die „Querdenker“ von staatlicher Willkür und Diktatur. Das Narrativ: Analogien zur NS-Diktatur oder zur DDR in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland, von der man den Eindruck zu erwecken versucht, sie selbst sei die Diktatur. Sich selbst sieht die Gruppe dabei als Widerstand gegen dieses „Regime.“

Unterdessen löst die Rede der „Querdenker“ auf dem Hammer Markplatz bei Passanten Kopfschütteln, bei einigen sogar Wut aus. „Ihr gefährdet uns alle, ihr Idioten“, ruft jemand zu der Gruppe hinüber. Während sich in Hamm jedoch die Mehrheit der Protestler an die Maskenpflicht hält, trug auf einer „Querdenker“-Demonstration in Leipzig im November kaum jemand einen Mund-Nasen-Schutz. 

Einer der „Querdenker“-Organisatoren soll sich daraufhin mit Corona infiziert haben. Der Mann soll acht Tage später auf einer Intensivstation künstlich beatmet worden sein, teilte der Direktor der Leipziger Universitätsklinik auf einer Pressekonferenz mit. An einer Demonstration am 29. August in Berlin hatte auch der kürzlich verstorbene AfD-Kommunalpolitiker Harald Hänisch teilgenommen. Ohne Maske und ohne die nötigen Abstände einzuhalten. Einige Medien spekulierten: War auch Hänisch an Corona gestorben? Die „Querdenker“ dementieren beide Fälle, es gebe keinen Zusammenhang mit ihnen. 

Vor allem die Berliner Proteste vom 29. August samt den Bildern von der angeblich versuchten „Erstürmung“ des Reichstags sind es, die als Indiz für eine zunehmende Radikalisierung im Umfeld der Bewegung gedeutet werden. Dabei betont Querdenker-Hauptorganisator Michael Ballweg stets, daß sich seine Bewegung von Links- und Rechtsextremisten abgrenze. 

Bezüge zu linken Parteien und Bewegungen

Rechtsradikale im Umfeld der „Querdenker“ sind aber nur eine Seite der Medaille. Oftmals in den Medien ausgeblendet wird dagegen, daß diesem Umfeld auch ein beachtliches linkes bis linksradikales Milieu angehört. Wissenschaftler der Universität Basel haben 1.150 sogenannte „Querdenker“ nach ihren politischen Einstellungen befragt und Demonstrationsteilnehmer interviewt. Das Ergebnis: 21 Prozent der Bewegung hatten bei der letzten Bundestagswahl die Grünen gewählt, 17 Prozent die SED-Erben der Linkspartei.

So ist es nicht weiter verwunderlich, daß auch Anselm Lenz auf einer „Querdenker“-Demo am 13. Juni in Ulm aufgetreten war. Der ehemalige Redakteur des einstigen FDJ-Zentralorgans Junge Welt gehörte vor seinen Anti-Corona Aktivitäten zum „Haus Bartleby“, einem Künstlerprojekt für Kapitalismus-Kritik. Mit der sogenannten Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand und den damit verbundenen „Hygienedemos“ gründete er eine ähnliche Anti-Corona-Gruppierung wie Ballweg. In Lenz’ Gefolge treten oder traten unter anderem der für Sputnik News tätige Dokumentarfilmer Uli Gellermann in Erscheinung, auch der für den vom einstigen DKP-Aktivisten Thomas Böhm gegründete Blog „Journalistenwatch“ tätige Videofilmer Thomas Grabinger, der frühere RBB-Moderator Ken Jebsen sowie der „Volkslehrer“ Nikolai Nerling (JF 23/18). Zu den Unterstützern zählt auch der einstige Aktivist des Kommunistischen Bundes und heutige Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer (JF 48 und 49/14). 

Sind „Querdenker“ und ihr Umfeld somit vielmehr Querfrontler, die in ihrem Haß auf das bestehende politische System das Verbindende untereinander sehen? Denen sich weitere Personen auch aus der politischen Mitte heraus anschließen, weil ihr Vertrauen in den Staat bereits erschüttert wurde und in diesem Milieu Bestätigung findet? Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Thüringens Ressortchef Georg Maier (SPD), bezeichnete vergangene Woche die Bewegung als heterogen und in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich aufgestellt. In Teilen müsse sie „leider die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden genießen“, ergänzte der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Hans-Georg Engelke. Einen „prägenden Charakter“ hätten Rechtsextremisten bei den Corona-Protesten indes nicht. 

Am vergangenen Samstag wollten die „Querdenker“ in Frankfurt erneut demonstrieren. Bis zu 40.000 Teilnehmer habe man erwartet. Die Demo wurde verboten, das Sicherheitsrisiko in Zeiten einer sich weiter zuspitzenden Corona-Pandemie sei zu groß gewesen, argumentierten die Behörden. Andererseits konnten linksradikale Gegendemonstrationen unter Auflagen stattfinden. Abstandsregeln? Ebenfalls Fehlanzeige. Und auch auf der Einkaufsmeile der Zeil in der Frankfurter Innenstadt drängten sich Passanten dicht an dicht. Widersprüchliche Vorgänge, die Bewegungen wie den „Querdenkern“ erst Bestätigung und Zulauf verschaffen.