© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Ländersache: Mecklenburg-Vorpommern
„Ein dickes Ding“
Jonas Petersen

Für den Leiter des Verfassungsschutzes in Mecklenburg-Vorpommern, Reinhard Müller, war es sicherlich nicht der angenehmste Ausflug in die Bundeshauptstadt. Fast sechs Stunden lang wurde der Gast aus Schwerin in einer bis nach Mitternacht dauernden Sitzung des Amri-Untersuchungausschusses im Bundestag von den Abgeordneten intensiv befragt. Unter anderem sollte Müller zu den Vorwürfen zweier Mitarbeiter seiner Behörfe Stellung nehmen, die 2017 mit der Betreuung von V-Männern im islamistischen Milieu beauftragt waren. Eine ihrer Quellen übermittelte wenige Monate nach dem mörderischen Anschlag angeblich neue Informationen über das Umfeld des Attentäters. 

Laut dem V-Mann sei eine arabischstämmige Großfamilie aus dem Berliner Clan-Milieu an der Finanzierung des Attentats und der anschließenden Flucht Amris beteiligt gewesen. Obwohl die beiden Mitarbeiter eindringlich dazu rieten, diese Aussagen an andere mit dem Fall betraute Behörden weiterzuleiten, hielt Amtsleiter Müller die Quelle für nicht vertrauenswürdig und entschied sich gegen eine Weiterleitung der brisanten Informationen. Über den Vorgang erhielt der zu diesem Fall ermittelnde Generalbundesanwalt erst im Oktober 2019 durch Mitteilung eines der beiden Quellenführer Kenntnis. 

Direkt vor dem Schweriner Verfassungsschutzchef war Generalbundesanwalt Peter Frank als Zeuge angehört worden. Auf Nachfrage zu den Geschehnissen in Mecklenburg-Vorpommern betonte dieser, daß er sich eine Weitergabe der Informationen an seine Behörde deutlich früher gewünscht hätte. Frank wörtlich: „Das war ein dickes Ding!“ 

Die Flucht von Anis Amri ist ein weiterhin kaum aufgeklärter Teil des Anschlaggeschehens. Vor dem Hintergrund dieser Ermittlungslücke bezeichnete der Generalbundesanwalt auch „noch so halbseidene Erkenntnisse“ für die Ermittlungen als wichtig. Auch Müllers Vorgesetzter im Innenministerium, Staatssekretär Thomas Lenz, bezeichnete die Nichtweitergabe der Informationen als politischen Fehler, der aber „fachlich noch vertretbar“ gewesen sei.    

Im politischen Schwerin wächst der Aufklärungsdruck weiter. Nicht nur die Vorwürfe zum Amri-Anschlag beschäftigen alle Landtagsfraktionen. Dem Landesamt wird seit kurzem auch vorgeworfen, daß eine bereits 2013 von der Behörde – aus welchen Gründen auch immer – erworbene Dekorationswaffe im Stil einer Kalaschnikow abhanden gekommen sei. Müller verwies hingegen darauf, daß die Waffe niemals verschwunden sei und 2019 vom Landeskriminalamt als nicht beschußfähig klassifiziert wurde. 

In einer Sondersitzung des Innenausschusses am vergangenen Freitag mußte sich Staatssekretär Lenz mit seinem Abteilungsleiter Müller auch im Schweriner Landtag stundenlang zu den Anschuldigungen äußern. Der Mitarbeiter, der den Skandal seinerzeit ausgelöst hatte, wurde dabei vom Innenministerium als „Verschwörungstheoretiker“ und „schwieriger Charakter“ abqualifiziert. Es wird erwartet, daß eben jener Mann zu Beginn des neuen Jahres im Schweriner Landtag angehört werden soll. Peter Ritter (Die Linke) forderte zukünftig Akteneinsicht für den Innenausschuß. Der AfD-Abgeordnete Horst Förster erklärte mit Blick auf die damalige Situation, daß „jedes Staubkorn“ umgedreht werden müsse.