© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Spritzt ihr schon oder prüft ihr noch?
„Lockdown“: Bund und Länder verordnen drastische Einschränkungen – mindestens bis in den Januar hinein / Beim Impfen hinkt Deutschland anderen Staaten hinterher
Peter Möller

Soviel Weihnachtsstreß war nie. Seitdem Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten sich am Sonntag vormittag auf eine Verschärfung des seit November geltenden Lockdowns geeinigt haben, steigt die Anspannung – nicht nur bei unzähligen Bürgern, die durch die seit Mittwoch geltende Schließung der meisten Läden um ihre vorweihnachtlichen Einkaufsmöglichkeiten gebracht worden sind.

Vor allem die Einzelhändler, denen mit dem Weihnachtsgeschäft ein bedeutender Teil des Jahresumsatzes wegbricht, schlagen Alarm. „Wir befürchten damit in einen perspektivlosen Zustand mit einem wochen- oder monatelangen Lockdown zu geraten, den der überwiegende Teil des innerstädtischen Einzelhandels nicht überleben wird“, warnte der Präsident des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Josef Sanktjohanser, bereits in der vergangenen Woche angesichts der sich abzeichnenden Verschärfung des Lockdowns. Deshalb müsse schon jetzt klargestellt werden, daß der Jahresend-Lockdown nicht verlängert werde. Sanktjohanser verweist darauf, der Handel sei kein Infektionshotspot. Dies bewiesen schon die unterdurchschnittlichen Infektionen bei den Mitarbeitern. Die erwogene Schließung eines großen Teils des Einzelhandels sei deshalb nicht verhältnismäßig, zumal jeder Schließungstag allein im Nicht-Lebensmittelhandel Umsatzausfälle von 800 Millionen Euro verursachen werde.

Doch in Berlin glaubt kaum jemand, daß der am Sonntag verschärfte Lockdown wie zunächst in Aussicht gestellt, am 10. Januar bereits wieder gelockert wird. So sagte Kanzleramtschef Helge Braun am Montag dem Fernsehsender RTL, er rechne nicht damit, daß die Corona-Maßnahmen zu Jahresbeginn gelockert werden können. Er habe zwar die große Hoffnung, daß die Zahlen sinken würden. „Eine umfassende Lockerung halte ich für sehr, sehr unwahrscheinlich“, sagte Braun. Januar und Februar seien, was Atemwegsinfektionen angehe, immer besonders schwierige Monate.

Über manche „auch sehr nationale Töne“ gewundert

Auch Wissenschaftler haben Zweifel, daß der von der Politik vorgegebene Zielwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner bis zum 10. Januar deutschlandweit zu erreichen ist. Der Saarbrücker Pharmazeut Thorsten Lehr rät daher davon ab, den Lockdown mit einem Ablaufdatum zu versehen. „Das vermittelt eine Sicherheit, die nicht da ist“, sagte Lehr der Welt. „Es ist gut, sich einen Meilenstein zu setzen. Die Politik sollte aber klar kommunizieren, daß das nicht der Tag ist, an dem der Lockdown vorbei ist.“ Am 5. Januar wollen Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten erneut über die Corona-Lage in Deutschland beraten.

Das Bundeswirtschaftsministerium warnte zu Wochenbeginn vor einem konjunkturellen Rückschlag als Folge. „Der wirtschaftliche Aufholprozeß hat sich zuletzt weiter fortgesetzt, aber der Verlauf der Pandemie stellt ein Risiko dar“, heißt es aus dem Hause von Minister Peter Altmaier (CDU). Die seit November geltenden und nun verschärften Maßnahmen belasteten vor allem die Gastronomie sowie Freizeit- und Tourismusbranche. „Mit dem jüngst beschlossenen harten Lockdown sind nun aber auch weitere Bereiche betroffen“, erklärte das Ministerium. Harsche Kritik an den Maßnahmen übte der stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende Sebastian Münzenmaier. Der erneute Lockdown zeige, daß die Regierung „ohne Konzept und ohne Strategie von Woche zu Woche taumelt.“ Er forderte stattdessen „eine auf wissenschaftlicher Evidenz basierte Strategie, die langfristig unsere Risikogruppen schützt und entsprechende Maßnahmen trifft, ohne unser ganzes Land zu lähmen.“ Sinnvoller seien „Schutzmaßnahmen und Schnelltests für Alten- und Pflegeheime, Taxigutscheine und spezielle Einkaufszeiten für Risikogruppen“.

Unterdessen laufen die Vorbereitungen für das große Impfen auf Hochtouren. Derzeit werden deutschlandweit rund 440 Impfzentren eingerichtet, in denen in wenigen Wochen damit begonnen werden soll, Millionen Deutsche gegen das Coronavirus zu impfen. Doch während eine der größten Impfaktionen vorbereitet wird, die Deutschland je erlebt hat, wächst die Kritik am Krisenmanagement von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Denn obwohl in Deutschland vom Mainzer Unternehmen Biontech einer der ersten Impfstoffe entwickelt worden ist, wird damit bislang nur in Großbritannien und den Vereinigten Staaten geimpft – eine Situation, die Spahn noch vor einigen Wochen ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Grund dafür ist, daß das Prüfverfahren für das Vakzin in Deutschland aufgrund von EU-Vorgaben zeitintensiver ist. 

In Großbritannien und den Vereinigten Staaten erfolgte die Freigabe des Impfstoffes durch eine Notzulassung, der ein weniger umfangreiches Verfahren vorausgeht. Angesichts der begonnenen Impfungen im Ausland mehrten sich auch in Deutschland die Stimmen, die eine schnellere Zulassung fordern. „Ich frage mich, ob wir wirklich bis zum 29. Dezember brauchen, um in Europa eine Zulassung des Impfstoffs zu erreichen. Europa sollte auch versuchen, schon vorher eine Notfallzulassung zu schaffen“, sagte der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, am Dienstag dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): „Dann könnten wir noch vor Weihnachten mit mobilen Teams in die Pflegeheime gehen und die Bewohner dort impfen.“ Doch Spahn hat lange Zeit geblockt. Man habe sich von Anfang an für eine ordentliche Zulassung auf europäischer Ebene entschieden, sagte er noch am Montag im ZDF-„Heute Journal“. „Das ist wichtig fürs Vertrauen aus meiner Sicht.“ Er wundere sich über manche auch sehr nationale Töne dieser Tage; man habe entschieden, es europäisch gemeinsam zu machen. Dienstag mittag verkündete Spahn dann unter dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit, daß der Biontech-Impfstoff am kommenden Mittwoch EU-weit zugelassen werden soll. 

Bevölkerung in sechs Kategorien eingeteilt

Die Zeit drängt: Um in Deutschland zu einem halbwegs normalen Leben zurückzukehren, müssen seinen Angaben zufolge zwischen 55 und 65 Prozent der Bevölkerung, also bis zu 54 Millionen Deutsche gegen Covid-19 geimpft werden. Allein die Lagerung und Verteilung der bis zu 100 Millionen Impfdosen, die für Deutschland benötigt werden, da alle Patienten mit einem zeitlichen Abstand zweimal geimpft werden müssen, ist eine Herausforderung, bei deren Bewältigung der Bundeswehr eine zentrale Rolle zukommt. 

Im niedersächsischen Quakenbrück, dem Standort der Apotheke der Bundeswehr, wird derzeit das zentrale Lager für den Impfstoff eingerichtet. Der Bundeswehrstandort bietet neben ausreichenden Lagerkapazitäten den Vorteil, daß der begehrte Impfstoff auf dem Gelände unter militärischem Schutz steht. Von hieraus soll das Material dann von der Bundeswehr und privaten Speditionen auf bis zu 30 Zwischenlager verteilt werden. Während unter Hochdruck deutschlandweit an den logistischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Massenimpfung gearbeitet wird, hat die dem Robert Koch-Institut zugeordnete Ständige Impfkommission bereits das theoretische Konzept vorbereitet. Demnach wird die Bevölkerung je nach Dringlichkeit in sechs Kategorien eingeteilt. Maßgeblich sind dafür in erster Linie das Alter, mögliche Vorerkrankungen sowie die berufliche Tätigkeit des Betroffenen. In den ersten fünf Kategorien, die eine erhöhte Priorität haben, sind demnach jeweils zwischen 5,5 Millionen und neun Millionen Menschen aufgeführt. 

Darunter sind unter anderem alle Menschen, die älter als 80 alt sind, sowie Heimbewohner, Rettungsdienste, Pflegekräfte im ambulanten und stationären Bereich sowie Beschäftigte in Notaufnahmen. Der Großteil der Bevölkerung – rund 45 Millionen Menschen – ist dagegen mit einer niedrigen Priorisierung in der untersten Kategorie eingeteilt. Derzeit läßt das Bundesgesundheitsministerium dieses Konzept von weiteren Experten überprüfen.

Doch mittlerweile wächst offenbar die Impfskepsis vieler Deutscher – vor allem unter Ärzten und Pflegern. Die Ständige Impfkommission hatte kürzlich auf eine Umfrage verwiesen, wonach die Impfbereitschaft in Deutschland seit dem Frühjahr stetig gesunken sei und beim medizinischen Personal sogar geringer ist als beim Rest der Bevölkerung. 

„Es überrascht mich, daß die Impfbereitschaft beim medizinischen Personal nicht deutlich höher ist und es eine so große Zurückhaltung gibt“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach am Montag der Funke-Mediengruppe. Vermutlich stehe dahinter die Einschätzung vieler Mediziner und Pflegekräfte, nicht zur Hochrisikogruppe zu gehören und durch Spezialkleidung gut geschützt zu sein. Lauterbach warnte gleichzeitig vor einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen.