© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Reflexionen über das Schachspiel
Zeit und Ewigkeit
Ulrich van Suntum

Wir Ökonomen gelten als reine Zahlenmenschen, die sich für nichts anderes als Kosten und Gewinne interessieren. Tatsächlich lassen wir uns eher von rationalen Argumenten als von Gefühlen leiten. Das trägt uns oft den Vorwurf der sozialen Kälte ein. Zu Unrecht, denn entscheidend sind letztlich die Konsequenzen einer Entscheidung, nicht die – wenn auch guten – Absichten, die dahinterstehen.

Aber Ökonomen sind auch Menschen mit den gleichen Fragen, Ängsten und Sorgen, die alle anderen haben. Wen eine möglicherweise todbringende Krankheit wie Covid-19 trifft, für den sind alle Statistiken, Wahrscheinlichkeiten und Kosten-Nutzen-Analysen nicht mehr von großem Wert. Statt dessen stellt sich wohl jedermann spätestens dann die Frage: Was kommt eigentlich danach? Gibt es ein Leben nach dem Tod, und wie soll man sich das als aufgeklärter Mensch im 21. Jahrhundert eigentlich vorstellen?

Für einen Wissenschaftler sind diese Fragen auch jenseits der eigenen Betroffenheit interessant, obwohl sie vielleicht immer spekulativ bleiben werden. Denn Wissenschaft bedeutet ja nicht etwa, möglichst viel sicheres Wissen anzuhäufen, sondern sich im Gegenteil gerade den ungelösten Fragen zuzuwenden. Manchmal kommen dabei neue Impulse gerade von Fachfremden, weil sie nämlich noch nicht in den tradierten Denkmustern gefangen und darum weniger in Gefahr sind, immer wieder in die gleichen Sackgassen zu laufen.

Es gibt also gute Gründe, als Ökonom die vielleicht wichtigste Frage unseres Daseins nicht allein den Theologen und Philosophen zu überlassen (zumal sich diese umgekehrt auch oft in ökonomische Probleme einmischen). Dies um so mehr, als die Religionen hier wenig Neues anzubieten haben, sogar während der Corona-Krise. Sie bringen uns im wesentlichen die gleiche „Frohe Botschaft“ wie vor zweitausend Jahren, als es noch keine Naturwissenschaften im heutigen Sinne gab und die meisten Menschen Gestirne noch für Götter hielten.

Nun sollte man sich über Geschichten vom Paradies mit wahlweise einer oder 72 Jungfrauen nicht lustig machen. Es sind Mythen, die einfachen Gemütern das Unbegreifliche näherbringen und ihnen Hoffnung geben sollen. Auch wir Wirtschaftswissenschaftler verwenden ja Modelle, von denen wir genau wissen, daß sie die ökonomische Realität in ihrer ganzen Komplexität nicht annähernd erfassen. Und dennoch sind sie nützlich, weil sie eben oft doch einen wahren Kern haben und so helfen können, reale Probleme zu verstehen und vielleicht sogar zu lösen.

Was nun das menschliche Leben betrifft, ist interessanterweise das Schachspiel ein recht nützliches Modell. Die Idee ist nicht ganz neu. So schrieb schon im 19. Jahrhundert der englische Biologe Thomas Henry Huxley: „Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Erscheinungen im Universum, die Spielregeln sind, was wir die Naturgesetze nennen. Der Spieler auf der anderen Seite ist uns verborgen.“ Huxley – nicht zu verwechseln mit dem Schriftsteller Aldous Huxley, dessen Großvater er war – hatte eine besondere Gabe, Wissenschaft einfach zu erklären, was er insbesondere für die Popularisierung der Thesen Charles Darwins nutzte. Er gründete mit anderen die bis heute renommierte Fachzeitschrift Nature und war Agnostiker, also unsicher, ob Gott existiert oder nicht.

Das Schachspiel ist mehr als ein Zeitvertreib. Es hat viel mit unserem realen Leben gemeinsam. Auf den 64 Feldern spielen sich oft wahre Dramen ab, und das Spiel ist so komplex, daß es theoretisch mehr mögliche Spielverläufe als Atome im Weltall gibt.

Wie gut er Schach spielen konnte, ist nicht überliefert. Aber das Wesen des Spiels scheint er gut verstanden zu haben, denn in der Tat hat Schach viel mit unserem realen Leben gemeinsam. Auf den 64 Feldern spielen sich oft wahre Dramen ab, und das Spiel ist so komplex, daß es theoretisch mehr mögliche Spielverläufe als Atome im Weltall gibt.

Interessanterweise hat Schach seit Ausbruch der Corona-Pandemie viele neue Freunde gewonnen, obwohl der klassische Spielbetrieb derzeit ruht. Aber dafür kann man Schach im Gegensatz zu anderen Sportarten hervorragend im Internet ausüben und dort mit etwas Glück sogar gegen den amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen spielen. Für zusätzlichen Auftrieb sorgte kürzlich die begeistert aufgenommene Netflix-Serie „Das Damengambit“, wo dramaturgisch hervorragend der Lebens- und Leidensweg eines Waisenmädchens mit genialer Schachbegabung erzählt wird.

Das Schachspiel ist aber mehr als ein Zeitvertreib. Es kann uns auch eine Menge darüber lehren, wie relativ unsere Begriffe von Zeit, Bewegung, Vergangenheit und Zukunft sind. Schon die Gesetze der Geometrie sind anders als die uns vertrauten. So ist der Weg diagonal über das Schachbrett für den König nicht weiter als entlang einer der vier Kanten des Brettes. Es sind nämlich jeweils genau sieben Züge, während für uns der Weg über die Diagonale eines Quadrates bekanntlich länger als entlang einer seiner Kanten ist.

Auch Zeit bedeutet für eine Schachfigur etwas anderes als für uns. In der Fachsprache heißt sie Tempo, womit jeweils ein Zug gemeint ist. Wenn zum Beispiel der König drei Züge braucht, um an einen feindlichen Bauern heranzukommen, dann sind das drei Zeiteinheiten in der Welt der Schachfiguren. Sie sind im Prinzip völlig unabhängig von unserer menschlichen Zeit. Auch wenn der Gegenspieler 100 Jahre Zeit für einen Zug hätte, er könnte damit einen Tempoverlust auf dem Brett niemals ausgleichen. Denn solange niemand zieht, steht die Zeit auf dem Brett quasi still, egal wieviel menschliche Zeit zwischen den Zügen vergeht.

Interessanterweise ist letzteres auch in unserer realen Welt der Fall. Denn aus Albert Einsteins Relativitätstheorie folgt unter anderem, daß Uhren um so langsamer laufen, je schneller sie sich im Raum bewegen. Und würde wie im Dornröschen-Märchen jede Bewegung im Universum aufhören, dann wäre es auch sinnlos beziehungsweise falsch, von einem Weiterfließen der Zeit zu sprechen, ganz ähnlich wie auf dem Schachbrett. Anders als Isaac Newton noch glaubte, ist also auch unsere Zeit keineswegs ein selbständig dahinfließender Strom, als der sie uns im Alltagsleben erscheint. Einstein selbst hielt sie für eine bloße, „wenn auch hartnäckige“ Illusion, wie er einmal der Witwe eines Freundes schrieb.

Damit bestätigt die moderne Physik, was der Heilige Augustinus von Hippo bereits im 4. Jahrhundert vermutet hat. „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht“, so schrieb er über das Wesen der Zeit. Letztlich hielt er sie für eine Erfindung Gottes, welche nur in unserem Bewußtsein existiert.

Die meisten Menschen glauben dennoch, daß die Zeit selbständig fließt. Darum haben wir Angst davor, zu sterben und dann bis in alle Ewigkeit tot zu sein, während das Leben ohne uns weitergeht. Schon der griechische Philosoph Epikur hielt das allerdings für unbegründet. Die Zeit nach unserem Tod betreffe uns ebensowenig wie die Zeit vor unserer Geburt, so argumentierte er. Denn zu existieren bedeute bei Bewußtsein zu sein, und schließlich gebe es keinen Moment unseres Bewußtseins, in dem wir nicht am Leben sind. Mit anderen Worten: Aus unserer subjektiven Sicht, auf die es alleine ankommt, leben wir praktisch ewig, wenn auch nur innerhalb eines begrenzten Zeitfensters.

Diese Überlegung paßt sehr gut zu der naturwissenschaftlichen Sicht der Zeit, wie Einstein sie vertreten hat. Zur Veranschaulichung können wir wieder auf das Schachspiel zurückgreifen. Stellen wir uns vor, die Figuren hätten ein Bewußtsein, so daß sie das Spiel genauso erleben wie wir unsere Realität. Wir können als Beispiel die sogenannte Unsterbliche Partie nehmen, welche Adolf Anderssen im Jahr 1851 in London gegen Lionel Kieseritzky spielte. Anderssen opferte damals zwei Türme und die Dame, um seinen Gegner am Ende elegant matt zu setzen. Die Figuren hätten diese Partie, die als eine der schönsten der Schachgeschichte gilt, als dramatische Schlacht erlebt, welche viele von ihnen das Leben kostete. Wir dagegen können sie jederzeit und beliebig oft wiederauferstehen lassen, da wir uns auf einer ganz anderen Realitäts­ebene befinden. Unsere Zeitachse steht gewissermaßen senkrecht zur Zeitachse der Schachfiguren, was diese mit ihrem auf das Spiel beschränkten Bewußtsein aber niemals begreifen oder auch nur bemerken würden.

Die meisten von uns halten ja das heutige Datum für „die“ Gegenwart. Aber dasselbe glauben alle Generationen. Bei Betrachtung aus einer höheren Ebene läßt sich nicht mehr entscheiden, welche Generation recht hat. Genauer gesagt: Sie haben alle recht. 

Jetzt gehen wir einen logischen Schritt weiter und wenden diese Überlegung auf unser eigenes Leben an. Wer sagt uns denn, daß es nicht eine weitere Zeitebene gibt, welche wiederum senkrecht zu unserer eigenen Zeitachse steht? Für Augustinus wäre dies die Zeitebene Gottes, aber dessen Existenz können wir hier offenlassen. Entscheidend ist: Innerhalb unserer eigenen Zeit wären wir dann zwar weiterhin sterblich, würden aber auf der höheren Zeitebene (oder vielleicht besser „Realitätsebene“) dennoch ewig existieren. Auch die Vorstellung eines ewigen Jenseits beruht ja auf einem ganz ähnlichen Gedanken. Hinter dem religiösen Mythos könnte also durchaus eine mit den Naturwissenschaften kompatible Wahrheit stehen.

Betrachten wir dazu das aus der Relativitätstheorie bekannte Minkowski-Diagramm. Darin sind auf der einen Achse die Zeit und auf der anderen Achse der Raum abgetragen. Der Raum ist dabei zur Vereinfachung auf nur eine einzige Dimension reduziert. Damit sehen wir wie auf ein Schachbrett praktisch „von oben“ auf unsere eigene Welt, einschließlich der Zeit! Zum Beispiel wäre ein Hundertmeterlauf von Usain Bolt im Minkowski-Diagramm einfach eine schräge Linie, deren Anstiegswinkel sein Lauftempo anzeigt. Aus der Bewegung unserer Alltagserfahrung ist aus dieser Perspektive also ein statisches Konstrukt geworden. Die Physiker sprechen von der Weltlinie. Darin sind alle Augenblicke unseres Daseins zugleich zu sehen, während wir selbst sie nacheinander erleben, ähnlich wie die Schachfiguren in der Unsterblichen Partie. Damit relativieren sich aber offenbar auch unsere eigenen Begriffe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die meisten von uns halten ja das heutige Datum für „die“ Gegenwart. Aber dasselbe glauben alle Generationen, unsere Vorfahren ebenso wie unsere Nachfahren. Bei Betrachtung aus einer höheren Ebene wie im Minkowski-Diagramm läßt sich dagegen gar nicht mehr entscheiden, welche Generation recht hat. Genauer gesagt: Sie haben alle recht, aber nur aus ihrer subjektiven Perspektive. Objektiv gibt es dagegen keine absolute Gegenwart. Daher brauchen wir uns um ein „Leben nach dem Tod“ eigentlich auch gar keine Gedanken zu machen. Das Leben ist zwar nur ein begrenzter Abschnitt auf der Zeitachse, aber auf der höheren Zeitebene dennoch von ewiger Existenz. Unsere Vorfahren sind in dieser Sicht weder lebendiger noch toter als wir. Sie leben einfach nur in einer anderen Zeit, so wie wir in der unseren. So sah es übrigens auch schon der vorchristliche Philosoph Parmenides. Er sprach vom ewigen Sein, welches nur scheinbar bewegt und vergänglich ist.

Zugegeben, so richtig gut vorstellen kann man sich das alles nicht. Das gilt aber für viele wissenschaftliche Erkenntnisse, wofür die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik nur die prominentesten Beispiele sind. Als Wissenschaftler, gleich welcher Fachrichtung, hat man hier sicher einen Vorteil, denn man ist es gewohnt, scheinbar selbstverständliche Alltagserfahrungen notfalls radikal in Frage zu stellen. Warum also sollte es uns nicht ergehen wie den Figuren in einem Buch, in einem Film oder eben in einer Schachpartie? Obwohl sie in ihrer subjektiven Sicht ebenso leben und sterben wie wir, ist ihr gesamtes Dasein als Teil des Buches, des Films oder der Schachpartie eben doch von ewiger Dauer. Ein Grund mehr offenbar, sein irdisches Leben möglichst gut und sinnvoll zu gestalten und seinem Ende etwas gelassener gegenüberzustehen. Eine schöne Schachpartie kann übrigens durchaus dazu beitragen.






Prof. em. Dr. Ulrich van Suntum, Jahrgang 1954, lehrte von 1995 bis 2020 Volkswirtschaft an der Universität Münster. Er ist Hobbyschachspieler und Autor des Buches „Ewig leben ohne Religion. Physik und Logik vs. Bibel und Koran (Charleston, 2016).

Foto: Schach als Fenster zur Metaphysik: Wer sagt uns denn, daß es nicht eine weitere Zeitebene gibt, welche wiederum senkrecht zu unserer eigenen Zeitachse steht, so wie unsere Zeitachse gewissermaßen senkrecht steht zur Zeitachse der Schachfiguren?