© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Kuschelpädagogik zieht überhaupt nicht
Die Journalistin Christine Kensche hat Einblicke in die gewalttätige Kultur der „ethnisch abgeschotteten Subkulturen“ in Deutschland erhalten
Fabian Schmidt-Ahmad

Stiernackige Gesellen traut vereint in einer Shisha-Bar. Der Kontext macht das Foto spektakulär: „Frieden in Berlin. Al Hamdullah“, schrieb der Boxer Mahmoud Omeirat Charr dazu auf Instagram. „Es war keine Selbstjustiz, alles in Absprache mit der Polizei und meinem Freund Michael Kuhr.“ Denn zu sehen sind arabische und tschetschenische Unterweltgrößen, die sich in den vergangenen Wochen einen heftigen Bandenkrieg in Berlin lieferten. Und nun offensichtlich den Streit in einem Gespräch beilegten – vorerst.

Der Vorfall wirft ein Schlaglicht auf eine Schattenwelt, die sonst ihren Geschäften im verborgenen nachgeht – die Clan-Kriminalität, oder „die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen“, wie es in der Definition des Bundeskriminalamtes heißt. Damit ist das Wesentliche umschrieben. Anders als gewöhnliche kriminelle Organisationen, deren Struktur sich aus Sachzwängen ergibt, entwickeln sich diese hier aus dem Schutz eines Familienverbandes heraus.

Viele Clan-Mitglieder kamen nach 1980 als Asylbewerber

Das macht es für Ermittler beinahe unmöglich, Informanten in die Szene einzuschleusen. Um so ungewöhnlicher der Schritt von Khalil O., der vor fünfzehn Jahren mit seiner kriminellen Karriere brach und heute als Sozialarbeiter Jugendliche betreut. Die Journalistin Christine Kensche spürte ihn auf, gewann das Vertrauen und führte zwei Jahre lang Gespräche, aus denen die vorliegende Biographie entstand. Wie viele Clan-Kriminelle stammt Khalil von den Mhallami ab, die ab den achtziger Jahren als Asylbewerber in die Bundesrepublik kamen.

Die Heimat existierte nur in vergilbten Fotos, doch unter Deutschen wuchs Khalil mit dem Gefühl des Fremdseins auf. Stärke und Halt gab nur der Familienverband. Noch heute sieht er sich nicht als Deutschen, bleibt dem überkommenen Wertesystem verbunden, aber jetzt steht er diesem distanziert gegenüber, erkennt dessen Schwächen und fordert einen Wandel. Damals jedoch begleitete es sein Abrutschen in die Kriminalität, machte eine Umkehr zunichte, die es durchaus gab. Szenen wie aus einem Mafia-Film, wenn Khalil wachsende Mengen von Haschisch und später Kokain schmuggelt und verkauft. Immer schneller, immer wilder das Leben, das er führt. Mit seinen Brüdern betreibt er einen Lieferservice für Kokain in der partysüchtigen Stadt. „Das Koks-Taxi hat mir echt viel im Leben gezeigt. Wir belieferten alle Klassen, von den ärmsten Schluckern bis zu den reichsten Ärschen der Stadt. Nutten und Zuhälter, Autohändler, Barkeeper und Köche, Künstler, Jurastudenten und Anwälte, Firmenchefs.“ 

Ein Blick in den Abgrund, aber auch amüsante Anekdoten, wenn ein Verwandter ein Kilo Kokain im Park vergräbt, dieses aber nicht wiederfindet. Nach langem Suchen gräbt er doch noch ein Päckchen aus, darin allerdings zwei Kilo Heroin. Seine Kumpane gehören selbstverständlich zur Familie, die bei der kriminellen Expansion hilft. Auch sonst regelt die Sippe alles. Die Ehe ist arrangiert, eigentlich lernen sich die Brautleute erst nach der Hochzeit kennen. Ein rauschendes Fest ist Pflicht. „Manchmal kommt auch noch Hauen und Stechen dazu.“ 

Wie mit der Clan-Kriminalität umgehen? Zunächst einmal ehrlich werden. „Es gibt welche, die sagen, daß das Wort Clan-Kriminalität rassistisch ist und man deswegen nicht darüber sprechen darf. Die verniedlichen das Problem“, ärgert sich Khalil. Die eine Methode hat er auch nicht. „Eine Sache ist aber klar: Kuschelpädagogik zieht da überhaupt nicht. ‘Demokratische Erziehung’ kennen diese Jungen überhaupt nicht, sie brauchen klare Ansagen.“

Khalil O. / Christine Kensche: Auf der Straße gilt unser Gesetz. Arabische Clans – ein Insider erzählt seine Geschichte. Heyne Verlag, München 2020, broschiert, 302 Seiten, 20 Euro