© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Der Flaneur
Ohne Wohnung
Elke Lau

Eigentlich habe ich kein Herz für Obdachlose. Nur damals in Berlins Süden empfand ich Mitleid mit einem ehemaligen Lehrer, dessen Schicksal mich berührt hatte. Er logierte vor dem Einkaufszentrum in der Johannisthaler Chaussee. Eine Bettelschale hatte er nicht aufgestellt.

Weil er vor Schmutz starrte, warf ich ihm immer ein Markstück zu. Das fing er geschickt, jedenfalls vormittags. Meinem Begleiter Uli fehlte jedes Verständnis: „Der kauft sich davon nur Schnaps.“ Eines Tages war der arme Teufel von der Bildfläche verschwunden. Wie wir später aus der Zeitung erfuhren, war er erschlagen worden.

Jetzt im Winter sieht man die Bank vor lauter Planen und Schlafsäcke kaum mehr.

In unserem Studentenstädtchen begegnete man bisher keinem Wohnungslosen. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Zwischen Parkanlage und Fußgängerzone steht eine Bank unter einer alten Kastanie. Ein etwa 70jähriger Mann ist seit längerer Zeit dort anzutreffen: Sauber gekleidet, gepflegter Bart, hört Musik und raucht Kette. Trolley und Reisetasche blockieren die Nebenplätze, die er aber eilfertig für gute Bekannte räumt. Nur viele leere Bierflaschen machen stutzig.

Heute, im Winter zu früher Stunde, ist die Bank nicht mehr unter einem Pulk von Plastikplanen, Schlafsäcken und zwei  aufgespannten Regenschirmen zu erkennen. Soeben schält sich der Schläfer aus der Höhle und klappt die Schirme zu. Er kramt eine rote Plastikschüssel aus einem Beutel, bestückt sie mit Kleingeld und plaziert sie am Gehweg auf einem Karton. Dann begibt er sich schnellen Schrittes zum gegenüberliegenden Kiosk. Drei Männer, die sich dort einen Schluck unterhalten und schon mächtig im Tritt sind, begrüßen ihn mit frechen Sprüchen. Unser Freiluft-Camper bleibt keine Antwort schuldig, kauft sich einen Kaffee und kehrt zu seinem „Heimwesen“ zurück.

„Wehe, du gibst ihm Geld“, warnt Uli. „Was denkst du denn von mir!“ antworte ich entrüstet.Vielleicht demnächst, wenn Uli aufmerksam die Schlagzeilen der Tagespresse am Aushang des Zeitungsladens studiert.