© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

Den Messias nicht unterschätzen
Brasilien: Ohne Partei im Rücken versucht Präsident Bolsonaro den fünftgrößten Staat der Erde – nicht ohne Erfolg – auf Kurs zu halten
Wolfgang Bendel

Anfang Dezember entließ Brasiliens Präsident Jair Messias Bolsonaro seinen Tourismusminister Marcelo Álvaro Antônio. Vorausgegangen war ein Streit um die Neubesetzung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses, bei dem Álvaro wohl geopfert wurde, um einem Kandidaten der Parteien der Mitte, Centrão genannt, Platz zu machen. Das Centrão seinerseits hatte versichert, in diesem Fall den Mann des Präsidenten für das umkämpfte Amt zu unterstützen.

Álvaro ist keineswegs der erste Minister, der in den ersten zwei Jahren der Präsidentschaft Bolsonaros das Kabinett verließ oder zum Rücktritt gezwungen wurde. Die Instabilität der Regierung hat verschiedene Ursachen. Hauptgrund ist dabei, daß Bolsonaro inzwischen parteilos ist, nachdem er im Streit seine Sozialliberale Partei (Partido Social Liberal, PSL) verließ. 

Umfragen bestätigen den Präsidenten

Ohne diese Partei, die immerhin über die zweitgrößte Fraktion in der Kammer verfügt, fehlt dem Präsidenten eine stabile Basis. Seine Versuche, eine eigene Partei mit dem Namen Aliança pelo Brasil (Allianz für Brasilien) zu gründen,  blieben bislang erfolglos. Hintergrund ist, daß es in Brasilien sehr aufwendig ist, eine neue Partei zu gründen.

Die Ereignisse zeigen, daß Bolsonaro bis heute nicht in der Lage war, seiner Regierung die nötige Stabilität zu verleihen. Ein gewisses Maß an Orientierungslosigkeit gepaart mit einer wenig durchdachten Strategie ist nicht zu übersehen. Der Präsident war jahrzehntelang ein parlamentarischer Einzelkämpfer, der dabei ständig seine Parteizugehörigkeit wechselte. Diese Vergangenheit rächt sich jetzt, da ihm gewachsene Machtstrukturen nicht zur Verfügung stehen. 

Trotzdem wäre es der größte Fehler, ihn zu unterschätzen oder als bereits gescheitert hinzustellen. Er ist äußerst zäh, kampferprobt und durchaus in der Lage, in entscheidenden Einzelpunkten taktisch geschickt vorzugehen. Das zeigte sich in der Corona-Krise. Hier reagierte er pragmatisch und veranlaßte, schnell und vergleichsweise unbürokratisch eine Notfallhilfe für die ärmeren Bevölkerungsschichten.

 Dies federte die wirtschaftlich negativen Nebenwirkungen der Pandemie ab und führte sogar zu einem gewissen Bauboom in den ärmeren Vierteln der Städte. Die neue Popularität, die ihm dadurch erwuchs, erwischte vor allem die politische Linke auf dem falschen Fuß. 

In einer aktuellen Umfrage über die Präferenzen der Brasilianer für den Fall, daß jetzt Präsidentschaftswahlen abgehalten werden würden, führt Bolsonaro mit großem Vorsprung. Die Anfang Dezember veröffentlichten Zahlen sehen den Präsidenten bei 33 Prozent, während der Zweitplatzierte, der ehemalige Justizminister Sérgio Moro, der dem Centrão nahesteht, nur auf 11 Prozent käme. 

Sollte Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva von der linken Partei der Arbeit (Partido dos Trabalhadores, PT) wider Erwarten antreten können, wäre das Ergebnis nicht wesentlich anders. Bolsonaro läge bei ebenfalls 33, Lula bei knapp 18 Prozent. Das ist insofern interessant, als es zeigt, daß es Bolsonaro gelang, einen Teil der ehemaligen Linkswähler auf seine Seite zu ziehen. 

Zur Halbzeit einer Präsidentschaft finden in Brasilien traditionsgemäß landesweite Kommunalwahlen statt. Diese in zwei Wahlgängen im November ausgetragenen Abstimmungen zeigten zwei klare Tendenzen: Einerseits eine deutliche Zuwendung der Wähler zu den Parteien des Centrão, andererseits massive Verluste auf der linken und rechten  Seite des  politischen Spektrums. Die einst dominierende PT stellt inzwischen keinen einzigen Präfekten in einer Hauptstadt der 26 Gliedstaaten des fünftgrößten Staates der Erde. 

Bei der Deutschen Welle kommt Bolsonaro gut weg

Dies kommt einer historischen Niederlage gleich, da die PT seit ihrem Bestehen gerade auf kommunaler Ebene sehr stark vertreten war und stets Bürgermeisterposten in den genannten Städten besetzte. Doch auch die linksgrüne Konkurrenz PSOL (Partido Socialismo e Liberdade / Partei Sozialismus und Freiheit) konnte wesentlich weniger von der Schwäche der PT profitieren als erhofft.

Sie stellt nur einen Präfekten und kam in São Paulo in die Stichwahl, die sie aber deutlich verlor. Schlecht schnitten auch die Kandidaten ab, die vom Präsidenten offiziell unterstützt worden waren – eine weitere negative Konsequenz der Tatsache, daß Bolsonaro über keine eigene Parteistruktur verfügt. Nur an wenigen Stellen konnten sich seine Leute durchsetzen.

Insgesamt sieht die Bilanz Bolsonaros eher durchwachsen aus. Der zögerlich einsetzende wirtschaftliche Aufschwung nach den desaströsen Jahren seiner Vorgänger Dilma Rousseff und Michel Temer wurde durch die Corona-Krise jäh unterbrochen. 

Wichtige Projekte wie die Zulassung von Handfeuerwaffen für gesetzestreue Bürger oder die Straffung und Vereinfachung der Steuergesetzgebung konnte er mangels Unterstützung durch den Kongreß nicht durchsetzen. Darüber hinaus traf er auf den hinhaltenden Widerstand des Obersten Gerichtshofs, der sich teilweise wie eine Gegenregierung verhält. Fortschritte wurden beim Ausbau der Infrastruktur, vor allem im Bereich der Bundesstraßen erzielt.

In einem Beitrag der Deutschen Welle, der das Krisenmanagement lateinamerikanischer Staaten in Zeiten des Coronavirus zum Inhalt hatte, kam Brasilien indes recht gut weg. Der Regierung wurde zugestanden, daß sie vor allem in wirtschaftlicher Sicht die Krise bislang vergleichsweise gut bewältigte: „... insgesamt scheint Brasilien etwas schneller aus der Wirtschaftskrise  zu kommen (...). Im dritten Quartal, heißt es in einer Analyse der niederländischen Bank ING, hätten das produzierende Gewerbe, der Bausektor und der Einzelhandel wieder deutlich zugelegt. Im regionalen Vergleich steche Brasilien damit hervor.“ 

Da der deutsche Auslandssender sicher nicht im Verdacht steht, Bolsonaro eine Gefälligkeit erweisen zu wollen, ist seine positive Einschätzung beachtenswert. 

Die relativ große Zahl an Corona-Toten wiederum erklärt sich durch die  hohe Bevölkerungszahl des Landes. Brasilien beherbergt inzwischen mehr als 200 Millionen Einwohner. Die Zahlen pro Kopf fallen im weltweiten Vergleich betrachtet nicht sonderlich aus dem Rahmen. Zudem ist zu konstatieren, daß für jeden Corona-Toten die Zentralregierung Mittel an die lokalen Behörden fließen läßt. 

Dies war angesichts einer allgegenwärtigen Korruption für einige Municípios (Landkreise) und Bundesstaaten offenbar Anlaß genug, ihre statistischen Daten etwas zu kreativ zu gestalten – höflich ausgedrückt.