© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

Das Geheimnis der Schlesischen Tunke
Vertriebenengebiete: Der „Geschmack von zu Hause“ prägt auch nachfolgende Generationen
Paul Leonhard

Weechquork mit Zwippelriehrlan, Häwekließla mit Pflaumaschmootsche, Wompakitte, Häckerle, Krupniok sind kulinarische Begriffe, die vielleicht – im Gegensatz zum Schläschen Himmelreich nur noch den alten Schlesiern bekannt sind. Andere Spezialitäten tragen ihre einstige Herkunft im Namen: Liegnitzer Bomben, Saganer Semmelklöße, Oppelner Würstel, Gogoliner Brot, Breslauer Semmel, Trebnitzer Strumpfsohlen oder Warmbrunner Gebäck. 

Und nicht zu vergessen die Warthaer und die Ratiborer Pfefferkuchen sowie für die Verdauung Stonsdorfer, Wünschelburger Korn oder Kroatzbeere aus Schlegel. Die aus ihrer Heimat vertriebenen Schlesier haben nicht nur mit ihren Bräuchen, Traditionen und vor allem ihrem Wiederaufbauwillen die Bundesrepublik bereichert, sondern auch die westdeutsche Küche.

Millionen Menschen brachten die in ihren Familien überlieferten Rezepte aus dem Osten mit. Besonders zu Weihnachten, wenn die Familien zusammenfanden, sollte es ein wenig wie in der alten Heimat sein. Dann wurden die schlesischen Gerichte zubereitet und Geschichten von dem verlorenen Land erzählt. Durch die Erinnerung an die Rezepte, die man zu Hause gekocht hatte, werden die Speisen Teil der verlorenen „Gegenstände“ der Heimat, aber auch gleichzeitig zu etwas, das wirklich da ist und das mit anderen geteilt werden kann.

Dieser Geschmack von einem nie gesehenen Zuhause der Großmütter prägte wiederum die Heranwachsenden in Nord-, West- und Süddeutschland. Wichtig war die schlesische Küche in der Nachkriegszeit, weil im Mittelpunkt die Wiederverwendung stand. Lebensmittel sollten grundsätzlich nicht weggeworfen werden. So wurde trockenes Brot für Suppen verwendet oder harte Brötchen zu Paniermehl verarbeitet. Typisch sind Gerichte, die mehrfach aufgewärmt werden konnten oder lange haltbar sind.

Fischpfefferkuchen wird zum Karpfen gereicht

,,Schlesische Weißwurst mit Sauerkraut und Kartoffelpappe, Pökelfleisch mit Hirse und Sauerkraut, Krakauer Würstchen mit Polnischer Sauce und Kartoffeln, Karpfen mit brauner Butter und Kartoffeln“ habe es Heiligabend gegeben, sagt eine Frau in Professor Max Matters Projekt „Kulturanthropologie: Die Bedeutung der heimatlichen Küche für Vertriebene“, für das er 13 Personen aus Winzig im Kreis Wohlau in Niederschlesien befragt hat. Eine andere Familie berichtete, daß die Kartoffeln am 24. Dezember alle gleichmäßig oval sein mußten. Der Vater achtete darauf, daß mit der braunen Butter, die es dazu gab, sorgsam umgegangen wurde: „Kinder, das ist keine Tunke, das ist reine Butter. Damit darf man die Kartoffeln nur anfeuchten!“

Besonders gewöhnungsbedürftig war vor allem die „Weihnachtstunke“, an der sich die Geschmäcker schieden. Je nach Region auch unter Namen wie Christtunke, Pfefferkuchentunke, Pfefferkuchensauce, Weihnachtssauce, Braune Sauce, Schlesische Tunke oder Polnische Sauce bekannt, handelt es sich um in Malzbier aufgeweichten Lebkuchen mit Mandeln und Rosinen, mitunter auch Speck, und eine Brühe aus Pastinaken, Sellerie und Möhren.

Dabei wird der ungesüßte und ungewürzte harte Fischpfefferkuchen am Vorabend des Festmahls eingeweicht und in einem abgedeckten Gefäß kühl gestellt. Am nächsten Tag wird diese dickflüssige Masse mit einer Brühe aus Gemüse und Gewürzen vermischt und aufgekocht.

Wo also am Heiligen Abend statt Bockwurst mit Kartoffelsalat oder Heringssalat traditionell Kartoffelbrei, schlesisches Kraut, schlesische Weißwürste und natürlich diese geheimnisvolle Tunke vor der Bescherung auf den Tisch kommen, ist noch immer ein Stück Schlesien in den Herzen der Menschen zu Hause. 

Und im katholischen Oberschlesien, wo nach wie vor eine deutsche Volksgruppe zu Hause ist, heißen die Lebkuchen Fischpfefferkuchen, weil die Tunke zum Karpfen gereicht wird. Soll die Schlesische Tunke als Dessert gereicht werden, kommen Trockenobst und mitunter auch Nüsse dazu.