© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

„Berlin hat die Spaltung mitprovoziert“
Die Ratspräsidentschaft Deutschlands in der Europäischen Union ist zu Ende. Wie lautet die Bilanz? Der slowakische Ministerpräsident a.D. und Europapolitiker, der christkonservative Dissident Ján Carnogurský, hat seine persönliche Sicht auf die Leistungen der Regierung Merkel
Moritz Schwarz

Herr Dr. Carnogurský, die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist zu Ende und in den Medien gibt es viel Lob für die Bundesregierung. Zu Recht?

Ján Carnogurský: Lassen Sie mich etwas ausholen: Deutschland hat nach dem Krieg eine große Leistung vollbracht: das Wirtschaftswunder, das zumindest Westdeutschland nur wenige Jahre nach der totalen Zerstörung fast an die Spitze Westeuropas gebracht hat.  

Daran gab es lange heftige Kritik deutscher Linker: Das Wirtschaftswunder habe zu einer abstoßenden „Wir sind wieder wer“-Mentalität geführt, und Führung anzustreben sei „deutsche Großmannssucht“.

Carnogurský: Von außen haben wir es so nicht gesehen, sondern als eine große Leistung Westdeutschlands, die wir mit Politikern wie Konrad Adenauer, Willy Brandt oder Helmut Kohl identifizierten.

Adenauer und Kohl gelten inzwischen als Repräsentanten einer angeblich tief rassistisch-sexistischen Gesellschaftsform, die überwunden werden müsse.

Carnogurský: Diese Denkweise übernehme ich nicht. Die Gender-Ideologie und das „Black Lives Matter“-Denken sind für mich heute genauso abscheulich wie früher die marxistische Ideologie. Natürlich, es darf keine Diskriminierung Homosexueller geben! Aber Europa ist über zweitausend Jahre durch das Christentum geformt worden.

Erklärtes Ziel der Bundesregierung zu Beginn der Ratspräsidentschaft am 1. Juli war es, die EU zu einen. Ist das gelungen?

Carnogurský: Wohl kaum, sehen Sie sich nur etwa den Konflikt mit Polen und Ungarn an. Jedoch wundert mich das auch nicht, da die Bundeskanzlerin dafür gar nicht den richtigen Ansatz hat. 

Inwiefern? 

Carnogurský: Ich glaube, daß sich Frau Merkel nur deshalb so lange an der Macht halten konnte, weil sie versucht, sich aus großen Herausforderungen herauszuhalten. Sie hat nie auch nur versucht, ein großes Problem anzugehen, es „bei den Hörnern zu packen“ und zu lösen. Insofern ist sie für mich – entschuldigen Sie, wenn ich das sage – eher eine „Beamtin“ der Politik, für die Regieren Verwalten, aber nicht Gestalten ist. Ob das für Deutschland gut oder schlecht ist, darüber müssen die deutschen Wähler entscheiden. Die EU jedenfalls hat sie mit diesem Regierungsstil in die Lage gebracht, in der sie jetzt festsitzt.

Zum Beispiel? 

Carnogurský: Etwas das Migrationsproblem: Bei dem sie sich nicht für eine mutige Politik, sondern für eine ruhige Politik entschieden hat – nämlich der Nichtüberwindung dieser Herausforderung. 

Den meisten deutschen Medien gilt ihre „Wir schaffen das“-Politik allerdings als im Prinzip vorbildlich.

Carnogurský: Das dominierende westlich-liberale Establishment wünschte Flüchtlinge, die zum großen Teil durch von ihm verursachte Kriege aus der Heimat vertrieben worden sind, in Europa anzusiedeln. Frau Merkel wagte es nicht, nach den Ursachen der Migration zu fragen. Sie hat einfach Deutschland als Ansiedlungsort angeboten. Auch die Slowakei hatte sich ja bereit erklärt, ein- bis zweihundert Migranten aufzunehmen. Doch schon nach kurzer Zeit waren sie verschwunden. Raten Sie, wohin. 

Nach Deutschland?

Carnogurský: Eben. Und die EU steckt fest, weil Berlin ständig weiter auf Umverteilung der Flüchtlinge drängt. Dafür habe ich aus deutscher Sicht sogar Verständnis. Doch sollte Deutschland ebenso dafür Verständnis haben, daß die Slowakei nun einmal auch eine Geschichte als zeitweiliges Grenzland des christlichen Europas zum Islam hat. Und so sind hierzulande historische Erfahrungen präsent, wie die Raubzüge, die die türkischen Osmanen immer wieder über die Grenze hinweg in unser Land unternahmen und dabei die Menschen ausraubten, ermordeten oder versklavten. Dazu gibt es bei uns eine ganze Literatur, die die Schrecken und Greuel dieser Zeit verarbeitet hat! Und solche Erfahrungen gibt es nicht nur bei uns, sondern auch  bei anderen Osteuropäern. Aber darf auch ich Ihnen einmal eine Frage stellen?

Bitte! 

Carnogurský: Deutschland ist, wie etwa auch die Slowakei, nicht Verursacher jener Kriege, vor denen viele der Migranten fliehen – das sind etwa die USA, England oder Frankreich. Warum aber nimmt Deutschland dennoch die Folgen der Kriege der anderen auf sich? Müßten das nicht diese Länder selbst tun oder wenigstens in größerem Maße als wir anderen?  

Gute Frage , die allerdings in Deutschland nicht diskutiert wird.

Carnogurský: Wenn, dann wäre es viel konstruktiver, Deutschland würde sich dafür stark machen, daß die EU mit Syrien, Irak, und falls möglich Libyen, verhandelt, die Flüchtlinge so schnell wie möglich zurückzuführen. Natürlich müßten wir dabei darauf dringen, daß sie dort nicht drangsaliert, bestraft oder gar gefoltert und getötet werden! Deshalb müßte die EU einen funktionierenden Kontrollmechanismus schaffen, der künftige Hilfszahlungen und auch die Entscheidung über die Aufhebung von Sanktionen davon abhängig macht, daß dies unbedingt gewährleistet ist. Auch wäre es viel sinnvoller, das Geld, das jetzt an die Türkei fließt, dafür auszugeben. Und das gleiche Prinzip gilt für Afrika, wo es noch riesige unbesiedelte Flächen gibt. Es ist für alle besser, diese zu entwickeln, als Auswanderung zu fördern. Übrigens, wissen Sie, was ein Unternehmer tun muß, der Waren von der Westküste Afrikas an die Ostküste oder umgekehrt transportieren will? 

Nein. 

Carnogurský: Das, was schon Vasco da Gama vor fünfhundert Jahren tat! Nämlich per Schiff ums Kap der Guten Hoffnung fahren. Denn bis heute existiert keine kontinentale Ost-West-Bahnstrecke! Das zeigt, wieviel Entwicklungspotential es dort noch gibt.

So eine Strategie anzustoßen, dafür hätte Berlin die Ratspräsidentschaft nutzen können. Warum ist das nicht passiert?

Carnogurský: Wie gesagt, man scheut, große Herausforderungen anzunehmen, und man hält an alten Rezepten fest. Dabei ignoriert Deutschland, daß die Unterschiede in der EU – zumindest noch – zu groß sind, sprich daß andere EU-Länder das nicht möchten. Eben weil sie andere historische Erfahrungen haben und die Dinge anders betrachten. Und auch weil sie nicht auf ihr Recht verzichten wollen, ihre Belange selbst zu regeln.   

Allerdings ist es doch das erklärte Ziel Deutschlands, die Nationalstaaten zu überwinden und stattdessen ein „vereintes Europa“ zu schaffen.

Carnogurský: Nein, das wollen wir nicht. Vielleicht könnte man in peripheren Fragen das EU-Einstimmigkeitsprinzip aufgeben – aber nicht in Fragen, die die Souveränität der Staaten berühren! Doch lassen Sie mich bitte noch zu dem Punkt kommen, auf den ich zu Beginn hinauswollte: Sie hatten eingangs nach der Bewertung der deutschen Ratspräsidentschaft gefragt. Ich hatte ausgeholt, daß die nach 1945 rasch wiedererstarkte Bundesrepublik große Leistungen für Europa vollbracht hat. Leider aber vermochte sie nach der Wende 1989/90 nicht daran anzuschließen. 

Inwiefern nicht? 

Carnogurský: Etwa indem sie gegen keine der fünf Nato-Osterweiterungen seit damals ihr Veto einlegte – wie sie es immerhin, zusammen mit Frankreich, beim Beitrittswunsch der Ukraine getan hat. Zudem hat Frau Merkel 2014 den Schwenk hin zu einer unkooperativen Politik gegenüber Rußland mitgemacht.

Weil Rußland schließlich 2014 die Krim annektiert und in der Ostukraine einen fürchterlichen Bürgerkrieg entfacht hat. 

Carnogurský: Bei Auflösung des Warschauer Paktes 1991 hatte der Westen Moskau versichert, die Nato nicht nach Osten vorzuschieben. Für Deutschland tat dies Außenminister Hans-Dietrich Genscher gegenüber Generalsekretär Michail Gorbatschow. Doch dann kam es mit dem Nato-Beitritt osteuropäischer Staaten anders – womit Deutschland die Krise Europas mitverursacht hat! Denn die Nato-Osterweiterung ist die Mutter aller Probleme in Europa heute. 

Ist das nicht übertrieben? 

Carnogurský: Nein, denn wegen dieser Erfahrung ging Moskau schließlich zu einer Politik des Widerstandes gegenüber dem Westen über.

Die Osteuropäer wollten doch in die Nato. Was als souveräne Nationen ja auch ihr gutes Recht ist. Und ihre Souveränität wiederzuerlangen war schließlich eines der Hauptziele der Revolutionen von 1989/90 in Osteuropa. 

Carnogurský: Ich war dabei und weiß, wie es damals mit dem Wunsch nach dem Nato-Beitritt tatsächlich war. So hatte Václav Havel, mit dem ich lange in guten Beziehungen stand, ursprünglich immer gesagt, in der Tschechoslowakei wünsche man keine amerikanischen Truppen. Ja, am besten, sie zögen sich aus ganz Eu­ropa zurück! Doch nach einigen Jahren änderte der frühere Regimekritiker dann als Staatspräsident seine Meinung: plötzlich waren US-Soldaten sehr gut für die Tschechoslowakei! Dabei gab es aber nie eine Volksabstimmung darüber. Kein Wunder, denn der Nato-Beitritt wäre abgelehnt worden! Und zu Ihrer vorherigen Frage: Auch das ist eben ein Teil unserer Souveränität!

Balten oder Polen wollten allerdings doch eindeutig in die Nato. 

Carnogurský: Das stimmt und ist angesichts ihrer Geschichte auch verständlich. Aber im Fall der Slowakei und  Tschechiens war es nicht der Wille des Volkes, sondern der Eliten – unter dem stillen Druck des Westens, insbesondere der USA. Doch wie auch immer, entscheidend ist, welche Lehre Moskau daraus zog: nämlich daß jede Ausweitung westlicher Institutionen nach Osten immer auch der erste Schritt hin zu einer Nato-Ausweitung und damit eine Bedrohung ist. Und darauf beruht auch das Verhalten Rußlands 2014 in der Ukraine und der heutige Zustand der Spaltung Europas. Wenn es Deutschlands Ziel ist, Europa zu einen, warum hat es sich dann daran beteiligt, seine Spaltung zu provozieren? Wenigstens der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier konnte im Februar 2014 laut sagen, daß die damalige ukrainische Opposition – die jetzt Mächtigen in Kiew – den Vertrag zwischen dem ukrainischen Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch und der Opposition gebrochen hatte. Herr Steinmeier war damals als deutscher Außenminister einer der Garanten des Vertrags.  

Richtig, doch ändert das doch nichts daran, daß Putin heute ein gefährlicher russischer Nationalist ist, der eingehegt werden muß.

Carnogurský: Die Russen beobachten, wie immer neue US- oder Nato-Basen, die gegen Rußland gerichtet sind, gebaut werden. Und sie antworten darauf mit dem Ausbau ihrer Militärmacht und mit Patriotismus. Das ist es eben, woran es Europa mangelt – ein Patriotismus!






Dr. Ján Carnogurský, ist ehemaliger Ministerpräsident, Innen- und Justizminister der Slowakei sowie Gründer und Ehrenvorsitzender der Partei „Christlich-Demokratische Bewegung“. Weil sich der Doktor der Rechte in der Zeit des Kommunismus für Kirchenaktivisten und Regimekritiker einsetzte, verlor er seine Anwaltzulassung. Unter anderem verteidigte er Unterzeichner der Charta 77 – auf deren Formulierung er auch Einfluß nahm. Zudem veröffentlichte er Texte in verschiedenen unabhängigen Zeitschriften, die mitunter auch durch Radio Free Europe verbreitet wurden. Er mußte als Kraftfahrer arbeiten, wurde arbeitslos und schließlich im Oktober 1988 verhaftet und zu Gefängnis verurteilt. Dank der „Samtenen Revolution“ kam der Dissident im Dezember 1989 frei . Nur zwei Wochen später wurde er Innenminister und Vizeregierungschef, 1991 dann Ministerpräsident der Slowakei. 1992 wechselte er als Abgeordneter ins Parlament. Von 1998 bis 2002 war er Justizminister. Bis 2000 blieb er Vorsitzender seiner Partei. Geboren wurde der Jurist 1944 in der slowakischen Hauptstadt Preßburg (Bratislava).  

Foto:  Angela Merkel als EU-Ratsvorsitzende: „Ich glaube, sie kann sich nur deshalb so lange an der Macht halten, weil sie versucht, sich aus großen Herausforderungen herauszuhalten. Nie  hat sie auch nur versucht, ein großes Problem zu lösen. Insofern ist sie für mich – entschuldigen Sie – eher eine ’Beamtin’ der Politik, für die Regieren Verwalten, aber nicht Gestalten ist“ 

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