© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Zucht und Ordnung
Christian Vollradt

Damit Plenarsitzungen commentgemäß ablaufen, steht dem Bundestagspräsidenten beziehungsweise seinem jeweiligen sitzungsleitenden Vize die Ordnungsgewalt zu. Redner, die abschweifen, können zur Sache verwiesen werden, Zwischenrufer, die stören oder gar beleidigende Äußerungen von sich geben, sollen unter Nennung des Namens zur Ordnung gerufen werden. „Im Falle einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages kann der Präsident ein Ordnungsgeld in Höhe von 1.000 Euro, im Wiederholungsfalle von 2.000 Euro festsetzen“, heißt es in einem entsprechenden Handbuch. Bei „gröblicher“ Verletzung kann der Präsident einen unbotmäßigen Abgeordneten sogar bis zu 30 Tage von der Sitzungsteilnahme ausschließen. 

Im jüngst vergangenen Jahr nun machten die Sitzungsleiter des Hohen Hauses ausgiebigst von ihrem Züchtigungsrecht Gebrauch: Noch nie gab es im Bundestag so viele Ordnungsrufe wie 2020 – nämlich 20 an der Zahl, wie die Augsburger Allgemeine unter Berufung auf eine parlamentsinterne Auflistung berichtete. Das seien mehr als in allen vier vorausgegangenen Legislaturperioden seit 2002 zusammen, heißt es in dem Bericht. Seit der Wahl 2017 habe es in dieser 19. Legislaturperiode insgesamt 38 Ordnungsrufe gegeben, „so viele wie seit dreißig Jahren“ nicht mehr. Tatsächlich kam der 18. Bundestag auf lediglich zwei Ordnungsrufe, fünfmal wurden „unparlamentarische Äußerungen“ vom Präsidium zurückgewiesen. Allerdings mußten im März 2017 drei Grünen-Abgeordnete den Plenarsaal verlassen, weil sie T-Shirts mit der Aufschrift „Free Deniz“ – aus Protest gegen die Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel in der Türkei – trugen. 

Zwei Drittel aller Ordnungsrufe in der aktuellen Legislaturperiode seit Oktober 2017 erhielten demzufolge Abgeordnete der AfD, allein sechs kassierte Beatrix von Storch. Der AfD-Rechtspolitiker Stephan Brandner bekam in nur einer Sitzung im März vergangenen Jahres ganze drei Ordnungsrufe, gegen die er – erfolglos – Einspruch eingelegt hatte. Brandners Vergehen: zweimal hatte er seine Rede ohne die Anrede „Herr Präsident“ eingeleitet. Den dritten kassierte er von Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) für die Äußerung: „Auf der linken Seite dieses Parlaments sitzen die einzigen Nazis in diesem Haus – die Nationalsozialisten auf der linken Seite.“

Darüber hinaus wurden unter anderem Volker Kauder (CDU) sowie Frauke Petry (fraktionslos) für Verstöße gegen die Maskenpflicht zur Ordnung gerufen. Doch die vermeintliche Verrohung der Sitten im 19. Bundestag relativiert sich ein wenig, wenn man in die Bonner Vergangenheit blickt. Da bezeichnete etwa das SPD-Urgestein Herbert Wehner den damaligen CDU-Abgeordneten Jürgen Todenhöfer als „Wurmfortsatz“. Und als im ersten Bundestag einer der damals noch im Parlament vertretenen KPD-Politiker 1952 das Stichwort „Nürnberg“ erwähnte, rief ein gewisser Jung-MdB namens Franz Josef Strauß (CSU): „Da haben’s vergessen, euch aufzuhängen!“