© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Spahnsche Grippe
Corona: Deutschland ist Vorreiter bei der Entwicklung des sehnlichst erwarteten Impfstoffs – und scheitert bei dessen Verteilung / Doch dem verantwortlichen Minister scheinen auch die Pannen nichts anhaben zu können
Ronald Berthold

Jens Spahn hat es Ende vergangenen Jahres angeblich zum „beliebtesten Politiker Deutschlands“ geschafft. Doch ist dieses Etikett durch die Bilanz des Bundesgesundheitsministers nach fast einem Jahr Corona gerechtfertigt? Das Desaster bei der Beschaffung des Impfstoffes scheint nur der aktuelle Höhepunkt einer unter dem Strich erfolglosen und chaotischen Politik zu sein.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz wird ungewohnt deutlich: Der CDU-Politiker habe bei der Impf-Priorisierung „versagt“. Das Zitat markiert womöglich einen Wendepunkt bei der Beurteilung der Arbeit in der Virus-Krise. Galt bisher pauschal, die Bundesregierung mache alles richtig, und alternative Wege anderer Länder seien falsch, gibt es nun klare Schuldzuweisungen: „Es war sein Fehler, in der ersten Phase gleichberechtigt acht Millionen Menschen auf eine Stufe zu stellen.“

In anderen Ländern funktioniert die Impf-Strategie viel besser als hierzulande, die Zahlen sprechen für sich: Israel hat gerechnet auf hundert Einwohner 43mal so viele Menschen geimpft wie Deutschland, Großbritannien fünfmal mehr, und die USA übertreffen die Bundesrepublik um das Viereinhalbfache. Dabei hat ein deutsches Unternehmen das Vakzin entwickelt. Wer darauf verweist, den beschimpfen Politik und Medien neuerdings als „Impfnationalisten“. Kritik an Spahn gilt damit als „rechts“ und indiskutabel.

„Keine schlechte Laune mit kritischen Geschichten“

Allerdings mißglückte der Impfstart völlig. Die geringe Zahl der Vakzine und ausbleibende Lieferungen empören inzwischen sogar Gesundheitsminister der Länder. Hinzu kommt: Die Terminvergabe funktioniert schlecht. Und Impfzentren mußten inzwischen mangels Angebot und Nachfrage wieder schließen. Eine Blamage reiht sich an die andere. Und das in einer Frage, von der die Wirtschaftskraft des Landes abhängt: Je mehr sich die Abläufe verzögern, desto mehr verlieren Unternehmer ihre Einnahmen und womöglich sogar ihre Existenz.

Die Umfrage, die den Gesundheitsminister auf Platz 1 hob, fand am 18. Dezember statt. Schon damals war offensichtlich, daß Spahn und Kanzlerin Angela Merkel mit ihrer „europäischen Lösung“ und der Rücksichtnahme auf Frankreich gegen deutsche Interessen handelten. Die Welt am Sonntag erinnerte die beiden CDU-Politiker jetzt wütend daran, daß sie geschworen haben, „ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen und nicht der Vermeidung von EU-Debatten“. Bisher ist das noch eine Einzelstimme.

Besonders die öffentlich-rechtlichen Sender loben die Bundesregierung und den Umstand, daß diese die Verhandlungen mit den Herstellern an die EU abgegeben habe, weiter vehement. Daß dabei der französische Pharmakonzern Sanofi bevorzugt wurde, spielt keine Rolle, obwohl dieser das Vakzin nicht liefern kann. Jetzt kommt laut Bild heraus: Spahn hat einen Brief „in unterwürfigem Ton“ an Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) geschrieben, mit dem er das deutsche Verhandlungsmandat aufgab. Das Schreiben soll auf Druck Merkels zustande gekommen sein.

Kurz vor Weihnachten feierten die Medien Spahn als „beliebtesten Politiker Deutschlands“. Doch die Frage des Meinungsforschungsinstitutes Kantar (vormals Emnid) lautete: „Von welchem der folgenden Politiker wünschen Sie sich im kommenden Jahr 2021 eine möglichst große Wirkung in der deutschen Politik?“ Daß 52 Prozent den mit zahlreichen Vollmachten ausgestatteten Gesundheitsminister nannten, ist der Hoffnung geschuldet, möglichst schnell die Pandemiemaßnahmen hinter sich zu lassen. Mit Popularität hat das nichts zu tun. 

Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt kritisiert inzwischen seine Branche: „Statt kritische Fragen zu stellen, fokussiert sich die überwiegende Mehrheit der Journalisten, allen voran die gebührenfinanzierten, darauf, die Mächtigen zu exkulpieren. Einige rufen dazu auf, jetzt keine schlechte Laune mit kritischen Geschichten zu schüren.“

Dabei liegen diese auf der Hand. Eine Schließung des Einzelhandels und von Friseuren werde es nie wieder geben, hatte Spahn noch im September erklärt. Am 2. November begann der „Lockdown light“, seit 16. Dezember ist Deutschland wieder fast komplett heruntergefahren: „Die dynamische Lage macht’s erforderlich“, sagte der Gesundheitsminister lapidar zu seinen Widersprüchen. Die Fehleinschätzung der Lage zeigt auch, wie sehr Spahn die Effizienz seiner eigenen Arbeit überschätzt. Ähnlich falsch informierte er übrigens auch im März. Nur neun Tage vor dem ersten Lockdown behauptete er, Meldungen über bevorstehende Geschäftsschließungen seien „Fake News“.

Der durch das Infektionsschutzgesetz mit enormen und für ein demokratisches System ungewöhnlichen Sonderrechten ermächtigte Minister trägt die Hauptverantwortung dafür, wie Deutschland durch die Krise kommt. Und daß Spahn immer noch auf CDU-Vorsitz und Kanzlerkandidatur schielt, ist in Berlin kein Geheimnis. Hebel soll seine bis zum Impf-Debakel als erfolgreich gepriesene Corona-Politik sein.

Doch das war sie von Beginn an nicht. Fehler reiht sich an Fehler. Im Frühjahr behauptete Spahn, Masken zu tragen, helfe nicht gegen das Virus. Er hatte schlicht versäumt, welche zu bestellen. Als er dann in Panik zu viele geordert hatte, weigerte er sich zu zahlen und ließ die Händler auf den Kosten sitzen. Dafür gelangten nicht zertifizierte FFP2-Masken aus China in Umlauf. Im April quetschte sich der 40jährige mit mehr als zehn Menschen, darunter Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne) und Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) in einen Krankenhaus-Fahrstuhl. Als er im Sommer vor einer „zweiten Welle“ warnte, verschenkte die Bundesregierung Beatmungsgeräte ins Ausland.

Spahn hat zudem die Zeit seit Ausbruch des Virus – anders als verkündet – nicht genutzt, die Pflege- und Seniorenheime sicherer vor Ansteckungen zu machen. Hier sterben die meisten Covid-Patienten. Die hohe Zahl der Toten dient dem Gesundheitsminister wiederum als Begründung für den Lockdown.

Wie wenig in der von ihm verantworteten Politik klappt, zeigt sich nun auch an der Impf-Hotline. Anrufer kommen nicht durch oder klagen über lange Wartezeiten. Dabei steht laut Spahn-Ministerium der große Ansturm noch bevor. Man erwarte in den kommenden Wochen bis zu 500.000 Anrufe unter der Telefonnummer 116117.

„Grobes Versagen der Verantwortlichen“

Bisher kann all das dem Gesundheitsminister nichts anhaben. Selbst ein Immobiliendeal, der das Zeug zum handfesten Skandal haben könnte, verpufft völlig. Laut Tagesspiegel hat Spahn 2018 seinem „engen Freund“ Markus Leyck Dieken für eine knappe Million Euro eine Wohnung in Berlin-Schöneberg abgekauft. Im Jahr darauf berief der CDU-Politiker Leyck Dieken zum Geschäftsführer der staatlich kontrollierten Gematik. Das Gehalt für den Posten erhöhte er in diesem Zusammenhang – so das Blatt Ende Dezember – „um mindestens 110.000 Euro“.

Aufgrund des „engen zeitlichen Zusammenhangs“ fordert zumindest die FDP Aufklärung. Daß bei diesem privaten Millionengeschäft eine dienstliche Verquickung zumindest nicht auszuschließen sein kann und daher einen Aufreger darstellt, ist jedem Journalisten klar – zumal es sich bei dem Protagonisten um einen der mächtigsten Politiker des Landes handelt. Doch Spahn kann sich auch hier seltsamer Schonung gewiß sein. 

Unterdessen wurde vor allem auf seiten des Koalitionspartners SPD Kritik am christdemokratischen Ressortchef laut. Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach verwies auf „deutliche Defizite“ und der SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese griff den Minister scharf an: „Ich bin derzeit schon entsetzt über Jens Spahn“, sagte er dem Portal t-online. Der CDU-Politiker müsse „endlich seinen Aufgaben nachkommen und die offensichtlichen Probleme unverzüglich in den Griff bekommen“. Spahns Sprecher betonte indes, der Minister bezeichne „im Gegensatz zu mancher Berichterstattung die aktuelle Situation als Tage der Zuversicht“, da es künftig „nämlich genug Impfstoff für Deutschland“ gebe. Daß dies aktuell nicht so ist, hält die Neurologin Frauke Zipp, Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina, für „grobes Versagen“ der politisch Verantwortlichen. Es habe im Sommer Angebote für mehr Impfdosen gegeben, im Spätsommer von Biontech. „Wir hätten sie jetzt zur Verfügung“, sagte Zipp der Welt.