© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Ärzte, Richter und Rendite
30 Jahre Embryonenschutzgesetz: Reproduktionsmediziner wollen dessen Liberalisierung / Gerüttelt wird aber auch an der natürlichen Ordnung
Jürgen Liminski

Die Zukunft der Menschheit entscheidet sich in der Biomedizin. Das ist die Auffassung von Papst em. Benedikt XVI. Im Umgang mit dem Menschen und seiner Natur entscheide sich, ob es künftig eine Gesellschaft gebe, in der die Produzierenden den Produzierten und sich so zwei Klassen von Menschen gegenüberstehen, die in ihrer Würde eben nicht mehr gleich seien. Denn die Würde des Menschen sei an die Gleichheit der Personen gebunden und diese wiederum stehe in unmittelbarem Zusammenhang mit der Weise ihrer Zeugung. Eine ähnliche Meinung vertritt auch der deutsche Philosoph Jürgen Habermas, wenn er sagt, daß die Naturbeherrschung durch die humangenetischen Eingriffe in einen „Akt der Selbstbemächtigung“ umschlage, „der unser gattungsethisches Selbstverständnis verändert“.

Was hier als etwas abstrakter Blick in die Zukunft daherkommt, hat eine konkrete, empirische Basis. Es geht um künstlich gezeugte Retortenkinder und um den Schutz des Embryos. Dieser Schutz ist in Deutschland einmalig – oder war es zumindest. Denn das Embryonenschutzgesetz (ESchG) ist seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1991 durch den technologischen Fortschritt und die Rechtsprechung mittlerweile so weit unter Druck gekommen und ausgehöhlt worden, daß die Bundesärztekammer im September 2020 den Gesetzgeber dazu aufgerufen hat, spätestens in der nächsten Legislaturperiode die rechtlichen Regelungen neu zu fassen. Im Klartext: das ESchG abzuschaffen und so der Reproduktionsindustrie das profitträchtige Feld zu überlassen.

Das ESchG regelt die künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) und den Umgang mit menschlichen Embryonen. Erklärtes Ziel ist es, das menschliche Leben von Beginn an zu schützen. Als Embryo im Sinne des Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige Eizelle. Entwicklungsfähig ist eine Eizelle innerhalb von 24 Stunden nach der Kernverschmelzung (Paragraph 8 Abs. 1). Mit anderen Worten: Mit der Vereinigung von Ei-und Samenzelle, der Befruchtung oder Kernverschmelzung, entsteht eine genetische Identität, der Embryo entwickelt sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch.

Mehr als 9 Millionen Kinder aus künstlicher Befruchtung

Das ist nicht nur christliche Überzeugung von Anfang an – der Arzt und Evangelist Lukas benutzt das gleiche griechische Wort „Brephos“ für das ungeborene Kind Johannes im Bauch seiner Mutter Elisabeth, als auch für das geborene, Jesus in der Krippe –, sondern auch wissenschaftlich nachweisbar, und das Embryonenschutzgesetz trägt diesem wissenschaftlichen Stand Rechnung.

Aber die Überzeugung verblaßt und mit ihr auch ethisch-menschliche Gewißheiten. Etwa zehn Prozent aller festen Paare in Deutschland sind aus biologischen Gründen kinderlos, trotz Kinderwunsch. Mit Verweis auf sie hat sich eine Reproduktionsindustrie entwickelt, für die das ESchG eine Beschränkung bedeutet. Andernorts dagegen explodieren die Zahlen. Am 25. Juli 1978 wurde das erste Retortenkind geboren, Louise Brown, und zwar im Royal Old Hospital in Manchester, 49 Zentimeter groß und 2.608 Gramm schwer. Es war der erste „in vitro“ – im Glas, also in der Retorte – gezeugte Mensch. Mehr als neun Millionen Kinder sind seither weltweit aus künstlichen Befruchtungen entstanden, in Deutschland sind es 319.119 seit 1997. 1982 gab es in Deutschland 742 Behandlungen mit dem Ziel einer künstlichen Befruchtung, 18 Jahre später waren es 61.531. 2019 wurde mit 107.373 Behandlungen ein historischer Höchststand erreicht (Quelle: Deutsches IVF-Register).

Der Umsatz auf dem Baby-Markt der Reproduktionsmediziner wird auf mehr als 20 Milliarden Euro geschätzt, so das Marktforschungsunternehmen „Allied Market Research“ mit Firmensitz in Portland im US-Bundesstaat Oregon. Laut einer Marktanalyse des US-amerikanischen Branchenriesen „Market Data Enterprises“ (Tampa/Florida) gibt es allein in den USA mehr als 100 Samenbanken und an die 500 Reproduktionskliniken, in deren Labors jedes Jahr mehr als 50.000 Kinder erzeugt werden. Dabei umfaßt die Angebotspalette längst weit mehr als die bei Louise Brown zum Einsatz gekommene In-vitro-Fertilisation und reicht heute von Gentests, mit denen Eltern ihre im Labor erzeugten Embryonen auf mehr als 400 vererbbare Krankheiten testen lassen können, bevor sie in den Uterus der Mutter implantiert werden, über das Arrangement von Leihmutterschaften speziell für homosexuelle Paare bis hin zur Geschlechtsselektion mittels Präimplantationsdiagnostik (PID) und zum sogenannten „social freezing“.

Mit Stand 2. Juni 2020 erfolgten in Deutschland mittlerweile 261 Behandlungen bei fehlendem männlichen Partner und 345 Behandlungen bei lesbischen Paaren, so das IVF-Register.

In Deutschland hat das ESchG das „big business“ des Baby-Markts noch eingedämmt. Aber das zweifelhafte Vorbild von Facebook und Apple, die ihren weiblichen Angestellten bis zu 20.000 Dollar bieten, wenn sie ihre Eizellen einfrieren lassen, macht ebenso Eindruck wie die These, daß auf den „Sex ohne Zeugung“ durch die Pille bald die „Zeugung ohne Sex“ durch „social freezing“ und Reproduktionsmedizin folgen werde, wenn dann das Berufsleben die Zeit dafür lasse. Und natürlich wird mit Gesundheit und Ethos argumentiert. Deutsche Mediziner wie der Stammzellforscher Oliver Brüstle (Bonn) fordern seit Jahren, das ESchG zu reformieren, um mittels embryonaler Stammzellen Organe für Transplantationen züchten oder Krankheiten wie Diabetes und Parkinson behandeln zu können.

Embryonenproduktion als Depot für Forscher?

Auch auf Richter macht die Entwicklung der Forschung und Technik Eindruck. Und ähnlich wie bei der Abtreibung werden Präzedenzfälle geschaffen. So hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig im November 2020 eine Entscheidung der Bayerischen Ethikkommission für PID aufgehoben, die den Antrag eines Paares auf Durchführung der verbotenen Diagnostik abgelehnt hatte (Az.: BVerwG 3 C 12.19). Nach Ansicht der Kommission – nach dem ESchG muß eine Ethikkommission über PID-Anträge befinden – bestand bei dem Paar kein Risiko, eine schwerwiegende Erbkrankheit auf mögliche Kinder zu übertragen. Bei der PID werden im Labor erzeugte Embryonen einem Gencheck unterzogen. Ziel ist es, nur solche Embryonen in den Uterus der Mutter zu übertragen, die genetisch unauffällig sind. Genetisch auffällige Embryonen werden getötet – was in Deutschland grundsätzlich verboten ist. Richter legen die Ausnahmen fest. So geht Rechtsstaat konkret.

In Deutschland ist die PID nur in Ausnahmefällen erlaubt. Sowohl das Verwaltungsgericht München als auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sahen im vorliegenden Fall die Bedingungen für nicht erfüllt an, die das ESchG an die Durchführung der PID stellt.

Der Fall ist exemplarisch für die Aushöhlung des ESchG. Der Paragraph 3 des Gesetzes sieht vor: „Wer es unternimmt, eine menschliche Eizelle mit einer Samenzelle künstlich zu befruchten, die nach dem in ihr enthaltenen Geschlechtschromosom ausgewählt worden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Dies gilt nicht, wenn die Auswahl der Samenzelle durch einen Arzt dazu dient, das Kind vor der Erkrankung an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder einer ähnlich schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheit zu bewahren.“ Eine Muskeldystrophie vom Typ Duchenne führt in der Regel bereits im jungen Erwachsenalter zum Tode. Auch sind an ihr erkrankte Kinder schon früh auf intensive Pflege angewiesen.

Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch bedeutet die Nennung der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne im Gesetzestext nun keinesfalls, daß diese der Maßstab sei für Krankheiten, die eine PID gestatten. Erbkrankheiten seien vielmehr dann schwerwiegend, wenn sie sich „durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden“. Es seien außerdem weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. So etwa „der Umstand, daß die Eltern bereits ein Kind mit der schweren Erbkrankheit haben oder die Frau nach einer Pränataldiagnostik und ärztlicher Beratung einen Schwangerschaftsabbruch (...) hat vornehmen lassen, oder daß das Elternteil mit der genetischen Disposition selbst hieran erkrankt ist“.

Ärzte, Richter und Rendite – der Druck ist enorm. Im internationalen Vergleich nimmt sich der deutsche Embryonenschutz zwar noch immer wie eine Festung aus. Aber jetzt treten auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaft auf den Plan und fordern ein „zeitgemäßes“ Konzept für die Fortpflanzungsmedizin. Ihre Vorschläge sehen die Massenproduktion verwaister Embryonen vor, und sollten diese Vorschläge Wirklichkeit werden, würden pro Jahr in Deutschland mehr als eine halbe Million Embryonen im Labor erzeugt. Auf diese Weise entstünde ein stattliches Vorratsdepot für Forscher, die mit CRISPR/Cas-Genscheren an menschlichen Embryonen herumschneiden wollen.

Es ist klar, wohin das führt. Denn, so die Forderung, künstliche Befruchtungen sollen in Deutschland künftig nicht länger verheirateten, heterosexuellen Paaren vorbehalten bleiben. Im Visier liegt auch die natürliche Familie und damit die Natur des Menschen. Diese Natur, die für die Kultur und die gesellschaftliche Ordnung „einen normativen Charakter“ (Benedikt XVI.) hat, dürfte ohne Embryonenschutz endgültig ausgehebelt werden.

Foto: Eine Biologin entnimmt eingefrorene Eizellen aus einem Lagerbehälter mit Stickstoff (o.), zwei Mikromanipulatoren injizieren in einer Schale einer Eizelle ein Spermium (im Kinderwunschzentrum Magdeburg, u.): Der Liebesakt wird in einen technisch-industriellen Vorgang überführt