© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Das Vertrauen in den Glauben schwindet
Islam und Christentum: Ununterbrochen werden Kultur, Lebensformen und Religion verwechselt
Eberhard Straub

Der Islam ist ein Skandal, weil er eine Religion bleiben will. Das empört aggressive Laizisten, die sich zum Hüter der Aufklärung und zum Wächter der Vernunft ununterbrochen selbst ermächtigen. Wer mit ihrer Vernunft und ihrer Aufklärung nichts zu tun haben will, verweigert sich dem „Westen“ und seiner Rationalität. Beide wirken befreiend. Sie vernichten den Aberglauben, der immer noch über unberechenbare Dunkelmänner Menschen in Abhängigkeit hält und entrechtet. Ihre Aufgabe ist es daher, Tyrannen zu beseitigen und geknechtete Mitmenschen aus Not und Tod zu erlösen, nämlich aus Ahnungslosigkeit und Fremdbestimmung. Nur der Ungläubige ist frei. Denn der Unglaube führt aus der Finsternis ins Licht, darin liegt seine rettende Kraft. Wer nicht glaubt, wird selig. Das ist ihre frohe Botschaft.

Die Empörung über kriminelle Taten von Islamisten, insbesondere über terroristische Aktionen, verführt viele dazu, den Islam überhaupt für unvereinbar mit der europäischen Kultur zu halten, zu der das christliche Erbe nun einmal gehöre. Zur europäischen Kultur gehören allerdings auch die antiken Traditionen, hellenistisch-orientalische Überlieferungen, germanische Überreste und auch arabische und islamische Einflüsse seit dem frühen Mittelalter. Die europäische Kultur ist eine komplizierte Mischung. Auch das Christentum, ob in seiner lateinischen oder griechisch-russischen Ausprägung, arrangierte sich mit nicht leicht zu überschauenden heidnischen Lebensformen. Religion ist nur ein Element neben vielen anderen in einer Kultur als einem ragout fin vieler Ingredienzen.

Römische Katholiken machten sich verdächtig

Der Islam muß deshalb überhaupt nicht ein radikaler Gegensatz zur europäischen Kultur sein. In Frankreich konnte man vor gar nicht langer Zeit bekennen: Ich bin Atheist, aber selbstverständlich katholisch. Und in Italien galt es keineswegs nur als geistreicher Scherz, den Katholizismus ein kirchlich verwaltetes Heidentum zu nennen und im Heiden einen halben Katholiken zu vermuten.

Der Katholizismus in diesem Sinne ist eine Lebensform, ganz unabhängig von seinen Glaubensgütern. So war es von Anfang an, da die Christen in ihrer Umwelt selbstverständlich wie Römer, Griechen, Ägypter oder Syrer lebten, deren Vorstellungen über Lebensart, Sitten und Gewohnheiten sehr voneinander abweichen konnten. Die Katholische Kirche und ihr Glaube konnte dennoch als kulturfremd, ja als Feind freier Kulturtätigkeit vehement von aufgeklärten Liberalen oder Kulturprotestanten angegriffen, karikiert und diffamiert werden.

Römischen Katholiken mit gutem Gedächtnis klingt alles sehr vertraut, was heute dem Islam und seinen Gläubigen vorgeworfen wird. Denn Fundamentalisten, aufgehetzt von Jesuiten, verweigerten sich dem neutralen Staat und igelten sich in ihrem „Milieu“ ein, also in einer Parallelgesellschaft, die von der Wiege bis zum Sarg das Zusammenleben ordnete. Da Ultramontane von einem Ausländer abhängig sind, vom Papst in Rom, machten sich Katholiken verdächtig, unzuverlässige Bürger zu sein, immer bereit, die Nation zu verraten, unfähig zu freiem Denken und deshalb Fremde im Deutschland, wie es sich protestantische Liberale wünschten, und gar nicht vertraut mit der deutschen Kultur, über deren Inhalte Liberale und Protestanten wachten.

Der Liberale öffnete weit seine Arme, ließ sie aber sofort sinken, wollte etwa ein Katholik auf das Angebot einer möglichen Umarmung eingehen. Katholiken als Dunkelmänner, machiavellistische Verfechter des Aberglaubens und seiner Sklavengesinnung, bildeten eine Gefahr, weil nicht assimiliert, nicht integriert, und überhaupt nicht bereit, ihren Glauben aufzugeben und sich einer Leitkultur einzupassen. Frei kann nur sein, wer frei von Rom ist, also die Römische Kirche verläßt und sich im Haß auf deren „Haßprediger“ mit den anständigen, wehrhaften Freunden der Gleichheit aller Lebens- und Denkformen zusammentut, die das Leben erst richtig lebendig mache.

Die überwältigende Mehrheit der Muslime, die von ihrer Religion nicht lassen wollen, werden verdächtigt, wie einst die Katholiken, auf Eigenheiten zu bestehen und sich in Parallelwelten mit ihren Nischen den dafür passenden Raum zu verschaffen. Wurden früher solche Katholiken als Jesuiten oder jesuitisch diffamiert, so werden indessen mit Islam sofort Islamismus und finstere Machenschaften assoziiert, die das Leben schlechthin bedrohen, vor allem das der Toleranten, die sich dauernd im Einsatz befinden, keine Toleranz den Intoleranten zu gewähren.

Ununterbrochen werden Kultur, Lebensformen und Religion verwechselt und durcheinandergebracht, was ähnlich wie früher im Kulturkampf gegen die Katholiken nur verwirrt. Immerhin: Die Kulturkämpfer gegen die Römischen Christen verfügten noch über einen Begriff von europäischer Kultur. Sie erforschten deren Mannigfaltigkeit und kannten wenigstens Teile des christlichen Erbes, nicht zuletzt um es vor Anschlägen römischer Söldner und Barbaren zu schützen.

Christen treten kaum noch für ihre Sendung ein

Davon kann heute keine Rede mehr sein. Die Antike ist ein paar Gelehrten überlassen. Im übrigen ist sie aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden. Wer Jupiter, Apollon oder Venus sind, das ist indessen so schwer zu ermitteln, wie halbwegs sichere Auskünfte über Jesus und Maria, Ostern oder Pfingsten. Der Sinn des Kreuzes wird nicht mehr verstanden. Es ist zum bloßen Zierat geworden. Das Christentum verdunstet und ist aus dem öffentlichen Leben nahezu verschwunden. Der Islam kann ihm gar nichts anhaben, weil Christen  kaum noch willens sind, für ihre eigene Sendung und Aufgabe einzutreten.   

Die Kirche, hier ist vor allem die Römische gemeint, stürzte sich aufgeregt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) in den Dialog mit der Welt, als hätte sie an dieser fast zwei Jahrtausende achtlos vorbeigelebt. Bei Dialogen kann man sich leicht verplaudern. Es war der Kirche von vornherein klar gewesen, daß sie und ihre Botschaft vielen und zu allen Zeiten ein Ärgernis bleiben würde. Sie suchte ihren Weg, um sich mal geschickter, mal ungeschickter im Wechsel der Zeiten zu behaupten, ohne sich zu wandeln. Das hieß, mit den Zeitgeistern und den verschiedenen politischen Systemen sorgfältig zu rechnen, ohne sich ihnen auszuliefern.

Seit dem Konzil wollte die Kirche zeitgemäß werden, obschon die Aktualität ihrer Botschaft unabhängig vom Augenblick ist und gerade deshalb klärend auf diesen einzuwirken vermag. Der römische Christ Carl Schmitt spottete: „Alles fließt, sagt Heraklit, / der Felsen Petri, der fließt mit!“ Die Kirche in Westeu-ropa jagte atemlos von einem Tag in den anderen und machte sich überflüssig. Denn sie verkündigt seitdem, was jede Gewerkschaft und jeder humanistische Verein zur Orientierung im Angebot hat.

Statt der konkreten Liebe zum Nächsten wandte sie sich der abstrakten Menschheit zu. Die erklärte Liebe zur Menschheit ermuntert oft dazu, woran der besonnene französische Aufklärer Charles-Louis de Montesquieu (1689–1755) gerne erinnerte, den Nächsten zu hassen, da dessen Schwächen, Fehler oder gar Laster die Geduld seiner unmittelbaren Mitmenschen übermäßig beanspruchen.

Kirchenlehrer schwärmten seit dem Konzil für Toleranz schlechthin, aber im Einzelfall für radikale Rücksichtslosigkeit; weil der Intolerante keinen Anspruch auf Toleranz haben darf, auch wenn er Katholik ist. Darin stimmen sie mit den aggressiven Laizisten überein. Denn auf Toleranz beruht unsere westliche, freie Lebensart. Wer Karikaturen des Propheten nicht aushält und auf Geschmacklosigkeiten gereizt reagiert, der ist nicht reif für das aufgeklärte Europa und braucht noch viele Lehrgespräche, um sich aus den Fesseln einer unaufgeklärten Religiosität lösen zu können.

Katholiken in Westeuropa kämpfen mittlerweile Seit’ an Seit’ mit Laizisten für eine Kultur der Freiheit, die nichts mehr mit der Freiheit eines Christenmenschen zu tun hat. Wie wollen sie im Namen der Kirche Christi mit Moslems reden, die begreiflicherweise in der Kirche eine Glaubensgemeinschaft erwarten und nicht einen Club Voltaire?

Die Laizisten können zufrieden sein. Die ruchlose Kirche, um mit Voltaire zu reden, verzichtet auf ihre Wahrheit. Geistig spielt sie keine Rolle mehr. Ihr Triumph kann die Laizisten aber nicht wirklich beruhigen. Denn es gibt keine Philosophen, die ein geistiges Lehramt ausüben wollen oder können. Die Aufklärung ist ein Schlagwort. Es gibt viele Aufklärer, die alle zusammen mit ihren Widersprüchen die sogenannte Aufklärung um ihre Klarheit bringen. Aus der Religion wurde Spiritualität oder Religionswissenschaft, aus der Philosophie Empathie.

Wer kann unter diesen Voraussetzungen auf die Herausforderung durch den Islam antworten, die keine religionswissenschaftliche ist, auch keine der Kultur – der Islam kann sich mit vielen Kulturen und Völkern vertragen –, sondern eine Frage des Geistes und des Glaubens. Im geistig erschöpften Westeuropa schwindet in gleicher Weise rapide das Vertrauen in den Geist und in den Glauben, zwei Mächte, vor denen die meisten verzagen, an deren hilfreicher Kraft Muslime nicht zweifeln. Das macht sie den Westeuropäern überlegen, deren laizistische Wut und donnernde Redensarten wie mächtige Lärmtrompeten des Nichts von ihrer Ohnmacht künden.