© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Das Umfeld entscheidet, ob aus dem Bazillus eine Seuche wird
Seuchen und das Milieu
(ck)

Max von Pettenkofer (1818–1901), der Begründer der Wissenschaftlichen Hygiene in Deutschland, ist trotz seiner Pionierleistungen als tragische Gestalt in die Fachgeschichte eingegangen. Weil die Theorie, daß Boden und Grundwasser ursächlich für die Cholera-Seuche seien, dem Münchner Professor jegliches Verständnis für bakteriologische Erklärungen versperrte, wie sie Robert Koch 1883 mit der Entdeckung des Cholera-Bazillus anbot. So erhielt München dank Pettenkofer zwar ein modernes Abwasser-Drainage-System, doch wissenschaftlich geriet die Münchner Hygiene spätestens 1892 aufs Abstellgleis, als die Hamburger Cholera-Epidemie die Richtigkeit der Bakteriologie Kochs bestätigte. Trotzdem, so führt der Medizinhistoriker Mathias Schütz (München) in einer Studie über „Hygiene und Historiographie“ aus, sei Pettenkofers „Milieu“-Theorie durch seinen Nach-Nachfolger Karl Kisskalt (1875–1962) weitgehend rehabilitiert worden (Sudhoffs Archiv 104/2020). So intensiv wie kein anderer habe Kisskalt die Sterblichkeiten anhand historischer Quellen und Statistiken erforscht. Dadurch sei der „ätiologische Reduktionismus“ der Erreger-Theorie Kochs korrigiert und von Kisskalt erkannt worden, daß der Bazillus zwar die Konstante der Krankheit bilde. Ob er sich aber zur Seuche entwickle oder nicht, darüber entschieden soziale Bedingungen. 


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