© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Gewisse Annäherungen zwischen Polen und Deutschen
Katyn als kleinster gemeinsamer Nenner: Neu entdeckte SD-Stimmungsberichte aus der Südostecke des Reichsgaus Wartheland
Oliver Busch

Demokratietheoretischen Lehrbüchern zufolge, die freilich speziell die gegenwärtige bundesdeutsche Verfassungswirklichkeit nicht mehr adäquat abbilden, kristallisiert sich in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung der Wille des Volkes heraus, dem die Regierungspolitik zwischen zwei Wahlterminen gerecht werden soll. Obwohl der NS-Staat institutionelle Garanten öffentlicher Meinung wie Parteien und Presse abschaffte oder strangulierte, konnte er doch auf deren Steuerungsfunktion nicht verzichten. Weil im Zeitalter „hochkomplizierter Lebensverhältnisse“ keine Regierung ohne „genaue Kenntnis des Meinungsklimas“ auskommt.  

Darum, so glaubte der spätere SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, müsse im „Führerstaat“ ein Nachrichtendienst die „Funktion der öffentlichen Meinung“ übernehmen. Einen solchen baute der Wirtschaftswissenschaftler mit dem Inlandnachrichtendienst des Sicherheitsdienstes der SS (SD) auf, der 1939 als Amt III im Reichssicherheitshauptamt ressortierte. 30.000 Vertrauensleute („V-Männer“) im gesamten Reichsgebiet hielten die zugleich als „Gegnerforscher“ (Lutz Hachmeister) tätigen Demoskopen in Ohlendorfs Behörde über Stimmung und Haltung der Deutschen auf dem laufenden. Über exekutive Kompetenzen verfügten, hierin mehr heutigen „Verfassungsschützern“ als der DDR-Staatssicherheit ähnelnd, diese SS-Intellektuellen zwar nicht. Es blieb indes ihre Pflicht, bei staatsfeindlichen Verdachtsfällen die Gestapo einzuschalten. Ohlendorfs Ehrgeiz ging jedoch weit über die Leistung solcher hilfspolizeilichen Dienste hinaus. Seine regelmäßig an Adolf Hitler, an alle Reichsminister und Gauleiter der NSDAP verteilten „Meldungen aus dem Reich“ sollten ein Instrument sein, um der Führung Selbstkorrekturen zu ermöglichen. Tatsächlich aber wurden sie von ihren realitätsblinden Adressaten zunehmend als „Sprachrohr des Defaitismus“ verhöhnt. 

Als Steuerungsmittel in der Hand der NS-Führung hätten sie also versagt, aber als hochrangige „Quelle für das Leben und Verhalten des deutschen Volkes unter der Diktatur“, so resümiert Heinz Boberach den Inhalt der von ihm 1984 in siebzehn Bänden publizierten „Meldungen aus dem Reich“, sind sie der zeithistorischen Forschung bis heute unentbehrlich.

Ingo Loose (Institut für Zeitgeschichte) konnte diesem Bestand nun ein Konvolut von über 200, im Staatsarchiv Posen entdeckten Berichten der SD-Außenstelle Kalisch, in der überwiegend polnisch besiedelten Südostecke des Reichsgaus Wartheland hinzufügen (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 6/2020). Nach der Niederlage von Stalingrad einsetzend, spiegeln sie das Stimmungsbild der Polen, volksdeutschen Autochthonen und dorthin 1939/40 umgesiedelten Volksdeutschen. Sie registrieren nach den Enthüllungen über die Massengräber der vom NKWD nahe Katyn ermordeten polnischen Offiziere eine kurzlebige Aufhellung des durch die „Apartheidpolitik“ der Okkupanten schwer belasteten deutsch-polnischen Meinungsklimas nach dem Motto: „Die Deutschen sind schlimm, aber die Bolschewisten sind noch schlimmer.“ Zugleich seien „gewisse Annäherungen“, die sich zwischen Polen und Volksdeutschen in der „Kontaktzone Kirche“ ergaben, vom SD beobachtet und geduldet worden. Überdies offenbarte die Empörung über Katyn die bei Polen und Deutschen „gleichermaßen verbreitete Denkfigur jüdischer Bolschewismus“, mit der sie den Judenmord im Warthegau vor sich selbst zu rechtfertigen versuchten. Letztlich würden die Kalischer Berichte jedoch nur belegen, daß selbst die leiseste „Annäherung“ angesichts der katastrophalen, terroristischen deutschen Besatzungspolitik zum Scheitern verurteilt gewesen sei.


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