© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Unter Dealern, Mördern und Islamisten
Drei „Spiegel“-Journalisten lassen einen türkischen V-Mann auspacken / Warnungen vor dem Terroristen Anis Amri verhallten bei den Behörden ungehört
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Er ist der Sohn eines türkischen Gastarbeiters, nennt sich Murat Cem und rutschte in die Drogen-Kriminalität ab. Doch statt drohender Gefängnisstrafe wird er zum V-Mann der Polizei in Nordrhein-Westfalen. Solche Leute stellen oft die einzige Möglichkeit dar, in abgeschottete Kriminellen-Gruppen einzudringen. Ihre Motive sind zumeist eine verführerische Mischung von Nervenkitzel, die Entlohnung und auch Bestätigung. Murat sieht darin sogar eine Aufgabe, die seinem Leben einen Sinn gibt. Zwei Jahrzehnte lang führt er ein Doppelleben in dieser Unterwelt, die Polizei setzt ihn an auf Drogendealer, illegale Waffenhändler, und nur durch ihn wird ein Mordfall aufgeklärt. Er wird „der wohl wichtigste Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte“. Sein größter Erfolg ist es, durch mühevolle Kleinarbeit das Vertrauen der Anführer einer mörderischen islamischen Terrorgruppe zu gewinnen. Mit einem von der Polizei ausgestellten Personalausweis auf einen Falschnamen und so mit einer wasserdichten Legende ausgestattet, wird er auf ein Mitglied der Leibgarde Osama bin Ladens angesetzt. 

Murat taucht in die Islamistenszene ein

Nach sechs Monaten kennt Murat dessen Ideen, Vorgehensweisen sowie die bewaffneten Anschläge der Islamisten. Zugleich setzt die stets von ihm informierte Polizei ihren V-Mann als vermeintlichen Drogen-Dealer ein – ein Fehler, der zu dessen Überlastung und weiteren Gefährdung führt. Im November 2015 lernt er Anis Amri kennen, der im Dezember 2016 den blutigen Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt verübt; im Juli des Jahres 2015 bat dieser als „Anis Amir“ um Asyl – zwei absichtlich vertauschte Buchstaben, die alles änderten, denn unter seinem wahren Namen lag bereits eine Warnung aus Italien vor. Sehr bald will er in Frankreich Schnellfeuergewehre kaufen, um in Allahs Namen in Deutschland salafistische Anschläge durchzuführen; Murat will ihn dabei begleiten, doch das LKA und BKA sowie Gerichtsstellen können sich nicht einigen. 

Als Amri nach Berlin zieht, empfiehlt die NRW-Polizei, ihn nur zu beschatten, doch nicht zu kontrollieren. Dies aber tut die dortige Polizei, wobei sie ihn mit vollem Namen anspricht und entgegen allem Rat sein Handy beschlagnahmt. Damit aber ist dieser gewarnt. Als er beim Ausländeramt Sozialleistungen erschleichen will, warnt eine naiv-weltfremde Beamtin ihn sogar vor einem Verdacht des BKA! Zu einer Abschiebung kommt es indes nicht, da Tunis auf Anfragen nach seinem Staatsbürger Amri nicht reagiert. Mit der neuen Ergänzung im Aufenthaltsgesetz haben die Innenministeriums-Juristen noch keine Erfahrung, was sie zögern läßt, eine Abschiebung einzuleiten. Die Folge ist, daß „Amir“ in Deutschland bleibt! Eindringlich warnt Murat vor ihm, will sogar auf dessen Wunsch ebenfalls nach Berlin umziehen. Doch typische, auf eigene Länderbelange konzentrierte Beschränkheit der sonst gut informierten NRW-Polizei führt dazu, Amri lediglich als „Berlin-Problem“ einzuordnen. Damit ist die letzte Chance vergeben, ihn zu stoppen!  

Das Risiko für Murat wird zu groß, zumal die „Gotteskrieger“ Mordaufrufe gegen ihn verbreiten. Die LKA-Zeugenschützer lassen ihn und seine Familie mit neuen Identitäten versorgen. Vergebens werden ihm etliche Jobs angeboten. Ursache ist gewiß sein langes Untergrund-Leben, so daß er sich kaum noch in eine bürgerliche Existenz integrieren läßt. Gegenüber drei Spiegel-Redakteuren offenbart er sein Leben, das diese an verschiedensten Stellen auf dessen Wahrheitsgehalt überprüfen. Ihr Buch gewährt einen tiefen Einblick in viele zweifellos unbekannte Schattenseiten unseres Alltagslebens, nach Murats Worten soll es sein „Vermächtnis“ werden. Doch wird er überhaupt jemals seinen inneren Frieden finden?

Jörg Diehl, Roman Lehberger, Fidelius Schmid: Undercover. Ein V-Mann packt aus. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020, gebunden, 320 Seiten, 20 Euro