© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

„Werkhalle der Welt“
Das Kaiserreich gilt heute vor allem als Ausgeburt von Chauvinismus und Vorstufe des Nationalsozialismus. Tatsächlich aber war es ein modernes Land mit zahlreichen zivilisatorischen Leistungen. Der Historiker Rainer F. Schmidt erklärt den dennoch einseitigen Blick darauf
Moritz Schwarz

Herr Professor Schmidt, woher hat das Kaiserreich seinen schlechten Ruf?

Rainer F. Schmidt: Ich sehe drei Gründe, die sich gegenseitig potenzieren: Erstens mißt man es an den moralisierenden Maßstäben der Gegenwart; an Kriterien, die die Menschen damals nicht kannten und nicht akzeptiert hätten, sowie an unserem Erfahrungsvorsprung, über den sie nicht verfügten. Zweitens werden Phänomene des Kaiserreichs mit Blick auf die nachfolgende deutsche Geschichte extrapoliert, also pauschal und stromlinienförmig hochgerechnet. Man macht die Politiker des Kaiserreichs für Entwicklungen haftbar, die nicht im Horizont des damaligen Entscheidungshandelns lagen. Drittens das, was man die „deutsche Nabelschau“ nennen könnte: eine national fokussierte Eindimensionalität der Deutungsschablonen, die die Politik nicht als kompliziertes Konstrukt widerstreitender Interessen und eines internationalen Wechselspiels von Aktion und Reaktion begreift. Man übersieht, daß der Gang der Dinge ab 1914 viele Entscheidungssituationen und Weggabelungen parat hielt, daß noch andere geschichtsmächtige Einflußfaktoren am Werk waren. Deshalb ist es methodisch fragwürdig, ja unzulässig, die deutsche Geschichte ab 1871 als eine Einbahnstraße, ja fast eine „Autobahn“, hin zu Hitler zu deuten und die Deutschen als die Generalübeltäter der jüngeren Geschichte zu brandmarken. 

Was sind die Gründe für diese Entwicklung? 

Schmidt: Hierzulande steht die Erforschung der Zeitgeschichte unter dem Druck, die Katastrophe des deutschen Nationalstaats in der Ära des Nationalsozialismus erklären zu müssen. Das hat sie zu einer eminent politisch aufgeladenen Disziplin gemacht. Man hat sich eingeklinkt in die von Hans Magnus Enzensberger einst so genannte „Bewußtseinsindustrie“, die dem Rezipienten vorschreiben will, wie er historisch zu urteilen und zu denken hat. An die Stelle des bekannten Diktums von Leopold von Ranke, zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“, ist ein volkspädagogischer Antrieb getreten. Aus diesem Grunde trafen das Buch des australischen Historikers Christopher Clark von 2014, „Die Schlafwandler“, und sein multiperspektivischer Ansatz zur Erklärung der Ursachen des Ersten Weltkriegs bei den tonangebenden deutschen Historikern auf strikte Ablehnung. Man warf ihm vor, „nicht in die Tiefe deutscher Strukturbelastungen“ vorgedrungen zu sein,  und hält an der Kontinuitätslinie einer von Deutschland ausgehenden Gewaltgeschichte fest. 

Wie ist das zu erklären?

Schmidt: Wenn man, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler, den Verkaufserfolg von Clarks Buch auf ein angeblich „tiefsitzendes, jetzt wieder hochgespültes apologetisches Bedürfnis“ der Deutschen zurückführt, sich von den Schuldvorwürfen befreien zu wollen, umgeht man die eigentliche Aufgabe, sich mit Clarks Ergebnissen inhaltlich auseinandersetzen zu müssen. Und es kommt hinzu, wie man überspitzt sagen könnte, daß Hitler nach seinem Tode fast noch mächtiger wurde als zu seinen Lebzeiten. In seinem Schatten stehen nicht nur unser fragiles Selbstverständnis als Nation, sondern auch die Deutung unserer Vergangenheit. Deshalb werden abenteuerliche Kontinuitätslinien vom Mittelalter bis in die Zeitgeschichte konstruiert. Deshalb sieht sich alles und jeder in der deutschen Geschichte dem Verdacht ausgesetzt, dem Unheil den Weg geebnet, dem Götzenkult Vorschub geleistet und dem Dämon die Saat ausgebracht zu haben. Die Vergangenheit wurde zur Geisel der Gegenwart und das Kaiserreich zur Vorstufe für „Machtergreifung“, Völkermord und einen neuerlichen Weltkrieg. 

Was sind die Konsequenzen dieses Trends? 

Schmidt: Wenn man so einlinig vorgeht, macht sich die Geschichtswissenschaft geradezu zum späten Erfüllungsgehilfen der alliierten Reeducation nach 1945, zum Sachwalter der politischen Erziehung der Deutschen. Kolleginnen und Kollegen, die gegen diesen mächtigen Trend argumentieren, werden an den Rand gedrängt, als „Revisionisten“ und „Neonationalisten“ etikettiert und als Steigbügelhalter des Rechtspopulismus stigmatisiert. Das jüngste Beispiel dafür ist das Buch des Marburger Historikers Eckart Conze mit dem Titel: „Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe“. Conze wirft einen solchen monoperspektivischen, ja manipulativen Blick auf das Kaiserreich und diffamiert jede andere Sichtweise, mag sie auch noch so substantiell und quellenfundamentiert sein. Tatsächlich aber lebt die Geschichtswissenschaft von Diskurs und Debatte, von widerstreitenden Interpretationen und vom Ringen um Erkenntnis, da es, anders als in den Naturwissenschaften kein Experiment und keine unumstößliche Beweisführung gibt. Es verhält sich so, wie Hannah Arendt einst feststellte: „Wahrheit gibt es nur zu zweit oder zu dritt“, also im Vergleich und in der ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen.  

Wie sieht denn nun in Zusammenhang mit dem Deutschen Reich von 1871 die zweite, nicht schwarzmalerische Seite aus?

Schmidt: Das Kaiserreich war ein janusköpfiger Staat mit zwei Gesichtern, eine spezifische Synthese aus nach unseren Begriffen rückständigen Elementen, beeindruckenden Modernisierungsleistungen und gesellschaftlicher Vielfalt. Hier gab es das freieste und korrekteste Wahlrecht, das seinesgleichen suchte in der Welt und das die Wahlbeteiligung auf 85 Prozent hochschraubte. Hier fielen die Einkommensunterschiede der breiten Masse viel geringer aus als in allen vergleichbaren Staaten. Denn dieser Staat war imstande, das reale Volkseinkommen pro Kopf binnen zwanzig Jahren um nicht weniger als dreißig Prozent, die Nominallöhne um das Zweieinhalbfache und die Reallöhne um fast das Doppelte zu steigern. Mit seinem Sozialversicherungssystem und seiner Arbeitsschutzgesetzgebung war das Kaiserreich das Modell für den heutigen Wohlfahrtsstaat. Es kam also nicht von ungefähr, wenn eine Berliner Zeitung in einer „Bilanz des Jahrhunderts“ 1899 ermittelte, daß die große Mehrheit der Leute die Kaiserzeit für die glücklichste Zeit in der deutschen Geschichte hielt. Dazu mag auch die ungeheure Leistungsfähigkeit der Wirtschaft beigetragen haben, die Deutschland zur „Werkhalle der Welt“ mit atemberaubenden Wachstumszahlen machte. Hier wurde 1913 etwa zwanzig Prozent mehr Strom produziert und verbraucht als in England, Frankreich und Italien zusammengenommen. Man kann das Kaiserreich also auch daran messen, daß es in der Lage war, seinen Bürgern Sicherheit und Ordnung, Wohlstand und Freizügigkeit zu verschaffen.

Standen dem vielleicht inakzeptable Nachteile gegenüber?

Schmidt: Natürlich war das Kaiserreich nach unseren Maßstäben keine Demokratie. Es gab Wohnungselend in den Ballungsgebieten, eine unzureichende Armenfürsorge und erhebliche soziale Mißstände als Folge der rasanten Industrialisierung und der großen Binnenwanderung von Ost nach West. Es gab keine vom Parlament gewählte Regierung, keine demokratische Kontrolle der Armee als Machtinstrument und – allerdings im europaweiten Zuschnitt – einen radikalen Nationalismus und völkisch fundierten Rassismus. In der Ära Bismarck wurden Katholiken, Linksliberale und Sozialisten als „Reichsfeinde“ ausgegrenzt. Aber dabei wird übersehen, daß die Sozialisten keine Sozialdemokraten waren, wie wir sie heute kennen. Sie waren Extremisten, die lange mit dem Gedankengut von Marx die bestehende Ordnung umstürzen wollten. Auch der oft geschmähte Kolonialismus lag im Trend der Zeit. Alle führenden Nationen griffen nach Übersee aus und huldigten einem missionarischen Rassenstolz. Was die Zeitgenossen sahen, das war, daß man im Wettlauf um Kolonien und Einflußgebiete immer weiter zurückfiel. Frankreich besaß das Zwanzigfache, England das Neunzigfache an Kolonien im Vergleich zum Mutterland. Rußland vergrößerte sich jeden Tag um durchschnittlich achtzig Quadratkilometer; und selbst die Niederlande und Belgien besaßen das Zweiundsechzigfache beziehungsweise das Zweiundachtzigfache des eigenen Territoriums an Kolonialbesitz. Deutschland dagegen wies anfangs gerade einmal das Doppelte, nach 1900 knapp das Vierfache auf. Dieser Vergleich relativiert die unmenschlichen Seiten des Imperialismus nicht. Aber er erklärt den Denk- und Erfahrungshorizont der Zeit. 

Warum hat dann Bundespräsident Steinmeier bei seiner Rede zum dreißigsten Jahrestag der Deutschen Einheit im Herbst das Kaiserreich ausschließlich geschmäht?

Schmidt: Unser Staatsoberhaupt war denkbar schlecht beraten, der deutschen und internationalen Öffentlichkeit ein solch grobschlächtiges, ja schiefes Bild des Kaiserreichs zu präsentieren. Seine Aufgabe ist es, zu integrieren und nicht zu polarisieren, zumal bei einer solchen Feierstunde. Fatal ist es, daß er dabei mit groben Verzerrungen, ja Unrichtigkeiten hantierte. Wenn er davon spricht, daß die nationale Einheit 1871 „brutal erzwungen (wurde), mit Eisen und Blut, nach Kriegen mit unseren Nachbarn“, dann blendet er die französische Aggressionspolitik aus: die napoleonische Invasion, die Forderung nach der Rheingrenze, die Erpressungs- und Kriegspolitik Napoleons III., die die Deutschen erst in der Abwehr zusammenschweißten. Es gab auch keinen, so Steinmeier, „kurzen Weg von der Gründung des Kaiserreichs bis zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs“, wie die jüngste Forschung nachgewiesen hat. Und im Kaiserreich wurde auch nicht „mit eiserner Hand (…) nach innen durchregiert“, Juden waren keine „Reichsfeinde“, die „verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt“ wurden, wie der Bundespräsident meint. Tatsächlich war in der Reichsverfassung die volle Emanzipation der jüdischen Bevölkerung garantiert und blieb der Staat immer auf Gesetz und Ordnung verpflichtet. Er schritt gegen antijüdische Unruhen ein, er brachte antisemitische Demagogen hinter Gitter und er ahndete Verleumdungen, Aufrufe zum Judenhaß sowie Gewalt gegen Juden. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern blieb der Antisemitismus ein politisches und gesellschaftliches Randphänomen. Nur in den vom Staat beherrschten Domänen, im Offizierskorps, bei den Spitzenbeamten und in den hohen Justizrängen gab es eine faktische Diskriminierung.  

Was ist mit dem „Durchregieren mit eiserner Hand“?

Schmidt: Der Reichstag zeigte sich immer wieder sperrig, wenn es galt, Gesetzesvorhaben der monarchisch bestimmten Regierung zu blockieren. Denn im Kaiserreich lag der archimedische Punkt des Regierens im Ausgleich zwischen Exekutive und Legislative, genau wie bis heute in den USA. Es gab auch eine freie, diversifizierte Presselandschaft mit mehr als 6.000 Zeitungen, die – wenn sie keine Majestätsbeleidigung begingen – unbehelligt von der staatlichen Zensur die Regierung kritisieren konnten. Die Gewerkschaften zählten Millionen von Mitgliedern; eine ausdifferenzierte Vielfalt von Verbänden und Interessengruppen artikulierte die Anliegen der Gesellschaft, und Innovationsinitiativen von der Reformpädagogik bis hin zur Frauenemanzipation und einer künstlerischen Avantgarde in Literatur, Malerei, Musik und Theater zeigten die Lebendigkeit des gesellschaftlichen Lebens. Nur die Außenpolitik war die Domäne des Kaisers. Aber auch hier galt: Das Kaiserreich war nicht machtgieriger, aggressiver und kriegslüsterner als die anderen Staaten. Anders als seine Nachbarmächte Frankreich und Rußland rüttelte es nie am territorialen Status quo auf dem Kontinent und stellte keine Gebietsansprüche in Europa. Seine Existenz und Größe war auch nicht unverträglich mit der Statik der Machtbalance in Europa. Sein Kardinalproblem war die Mehrfrontenbedrohung, das sich nicht militärisch, sondern nur politisch lösen ließ. Als Treppenabsatz für Hitler und den Nationalsozialismus taugt das Kaiserreich nicht. Dazu sind die Diskontinuitäten zu kraß und ist der Gang der Dinge zu kompliziert. 






Prof. Dr. Rainer F. Schmidt, lehrt Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg mit den Schwerpunkten Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter „Die gescheiterte Allianz. Österreich-Ungarn, England und das Deutsche Reich in der Ära Andrássy“ (1992), „Otto von Bismarck. Realpolitik und Revolution. Eine Biographie“ (2004) und „Der Untergang einer Republik. Weimar und der Aufstieg des Nationalsozialismus“ (2020), in dem er auch die Nachwirkungen der Kaiserzeit untersucht. In Kürze erscheint seine neue Studie über das wilhelminische Reich in Europa in der Zeit von 1890 bis 1918. Geboren wurde der Historiker 1955 nahe Hof im oberfränkischen Schwarzenbach.

Foto: Wappen des Deutschen Reichs von 1871: „Wahlrecht, diversifizierte Presselandschaft, gesellschaftliche Avantgarde, Sozialversicherung, ungeheure Leistungsfähigkeit der Wirtschaft mit beeindruckenden Wachstumszahlen ... 1899 hielt die große Mehrheit die Kaiserzeit für die glücklichste Epoche der deutschen Geschichte“

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