© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

In des Thrones Glanz
Berlin: Wieviel Kaiserzeit atmet die Bundeshauptstadt
Peter Möller

Schon die Namen klingen nach Geschichte: Unter den Linden, Wilhelmstraße, Reichstag. Der Umzug von Bundesregierung und Bundestag 1999 von Bonn nach Berlin war nicht nur ein Wechsel der Regierung und des Parlaments von der Provinz zurück in die Metropole an der Spree. Es war auch eine Rückkehr von dem quasi auf der grünen Wiese errichteten Bonner Regierungsviertel – in dem Straßennamen wie „Am Tulpenfeld“ den beschaulichen Charakter des Ortes unterstrichen – in die Geschichte. Mit dem Umzug nach Berlin kehrte die deutsche Politik an jene Orte zurück, an denen sich seit seiner Gründung vor 150 Jahren die Geschicke des deutschen Nationalstaates entschieden hatten – mit all seinen Höhen und Tiefen. Hier ist jeder Meter Geschichte – auch wenn viele der Gebäude, in denen sich diese einst abgespielt hat, nicht mehr oder nur in veränderter Form noch bestehen. Doch die Topographie ist geblieben.

Bereits im 19. Jahrhundert hatten sich östlich des Pariser Platzes und des Brandenburger Tores die – abgesehen vom Berliner Stadtschloß am Ende der Straße Unter den Linden als Residenz und Machtzentrum des Königs – wichtigsten politischen Institutionen des preußischen Staates angesiedelt, vor allem in der Wilhelmsstraße, die in Nord-Süd-Richtung die Straße Unter den Linden östlich vom Pariser Platz kreuzt. Spätestens seit Bismarck als preußischer Ministerpräsident 1862 in der Wilhelmstraße 76 in einem Palais sein Büro bezog und später dort sowie im Nachbarhaus als Bundeskanzler und Reichskanzler regierte, war sie die wichtigste preußische Regierungsstraße. 

Nach der Reichsgründung 1871 stieg Berlin von der preußischen Residenzstadt zur Reichshauptstadt auf, und das preußische Regierungsviertel rund um die Wilhelmstraße wurde zur Machtzentrale des Kaiserreiches, später dann das der Weimarer Republik und des Dritten Reiches. Sichtbarstes Zeichen des Regierungsviertels und der beginnenden Demokratisierung Deutschlands war seit 1894 jedoch der kuppelgekrönte Reichstag. Er war auch nach der Wiedervereinigung der Dreh- und Angelpunkt für die Planung des neuen Berliner Regierungsviertels. 

Wie kaum ein anderes erhaltenes Gebäude in der Mitte Berlins steht der Reichstag für die deutsche Geschichte der vergangenen 150 Jahre. Hier wurden die Flottengesetzte debattiert und 1914 die Kriegskredite bewilligt, später wurde um den Fortbestand der Weimarer Republik gerungen, bevor der Reichstag wie auch die durch ihn symbolisierte Demokratie in Flammen aufging und in Trümmer fiel. Auch wenn das Gebäude in der Nachkriegszeit und beim Umbau nach der Wiedervereinigung ohne Rücksicht auf die Geschichte entkernt wurde und im Inneren kaum noch etwas an die einstige Pracht erinnert, kann sich kaum jemand der historischen Bedeutung dieses Ortes entziehen. 

Den Reichstag zieren noch die Kaiserkronen

Die Rückkehr des deutschen Parlamentes in den „Plenarbereich Reichstagsgebäude“ wie der Reichstag offiziell im unnachahmlich verklemmten Beamtendeutsch der neunziger Jahre heißt, war damit auch eine bewußte Anknüpfung an die 1871 begründete Geschichte des deutschen Nationalstaates. Und während spätestens seit dem „Sturm“ auf den Reichstag im August vergangenen Jahres die Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot als Symbol des „vordemokratischen“ Deutschlands in der Öffentlichkeit in Verruf geratenen sind, wissen die wenigsten, daß der Reichstag noch immer mit steinernen Kaiserkronen, dem Symbol der Hohenzollernmonarchie, geschmückt ist.

Von den einstigen Regierungsbauten in der Wilhelmstraße ist dagegen so gut wie nichts mehr erhalten. Lediglich der Erweiterungsbau des einstigen preußischen Kultusministerium gegenüber der britischen Botschaft, in dem heute unter anderem Abgeordnetenbüros untergebracht sind, sowie der einstige Sitz des Geheimen Zivilkabinetts des preußischen Königs und deutschen Kaisers, das nun, um ein modernes Dachgeschoß erweitert, das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft beherbergt, zeugen noch von der Vergangenheit. Eine Straßenecke weiter nutzt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den erhaltenen und wieder sanierten Teil der früheren Ritterschaftsdirektion. Nicht in früheren Regierungsgebäuden, wohl aber in historischen Bauten aus der Kaiserzeit sind auch zwei etwas entfernter liegende Ressorts untergebracht: Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur in der ehemaligen Geologischen Landesanstalt und Bergakademie an der Invalidenstraße sowie nicht weit davon das Bundeswirtschaftsministerium in der kaiserlichen „Akademie für das militärärztliche Bildungswesen“.

Ebenso wie die Wilhelmstraße an ihre einstige politische Bedeutung zumindest wieder etwas anknüpfen konnte, erlangte auch das rückwärtige, zwischen der einstigen Bebauung und dem Tiergarten hin gelegene Areal eine neue Bedeutung. Hier lagen seit dem 18. Jahrhundert die Gärten der in der Straße gelegenen Adelspalais, die ab dem 19. Jahrhundert von den Ministerien Preußens, des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Dritten Reichs genutzt wurden. Durch diese Nutzung bürgerte sich für die Gartengrundstücke der Name „Ministergärten“ ein. Während an die Stelle der im Krieg zerstörten ehemals prachtvollen Adelsresidenzen gleichförmige Plattenbauten aus der Spätphase der DDR getreten sind, zeugt von den einstigen Gärten im südlichen Abschnitt nur noch der Straßenname „In den Ministergärten“. Hier haben sich die Landesvertretungen von Rheinland-Pfalz, Hessen, dem Saarland, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein angesiedelt. 

Im Juni und Juli sind die Gärten der Landesvertretungen Schauplatz der im politischen Berlin ungemein beliebten Sommerfeste und rücken die einstige Bedeutung des Areals, in dessen nördlichem Teil das Holocaust-Mahnmal liegt, zumindest für einige Stunden wieder in Erinnerung. 





Nicht präsent

Für die Mehrheit in der Bevölkerung der Bundesrepublik, bemerkte der Historiker Tobias Hirschmüller kürzlich, sei der Prozeß der Reichsgründung „mittlerweile entweder im kollektiven Gedächtnis nicht mehr präsent“ oder besitze „als identitätsstiftender Faktor keine Relevanz mehr“. Ganz sicher gilt diese Feststellung zumindest für die Bundesregierung und eine überwiegende Mehrheit im politischen Berlin. Kaum vorstellbar, daß der Bundestag eine Feierstunde abhält, in der dessen Präsident wie seinerzeit anläßlich des 90. Jubiläums Eugen Gerstenmaier (CDU) sagte: „Noch immer bewegen wir uns in vielfältiger Weise in jenem politischen Raum, der 1871 geschaffen worden ist.“ Und zum 100. Jahrestag würdigte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) die Reichsgründung als „Werk Bismarcks, eines der großen Staatsmänner unseres Volkes“ und ließ einen Kranz der Bundesregierung an dessen Grab niederlegen. Im Kabinett Merkel beschränkt sich eine Würdigung auf Fördermittel der Staatsministerin für Kultur und Medien. Monika Grütters’ Haus unterstütze Projekte, die mit dem Thema Reichsgründung verbunden sind, darunter etwa eine Onlinetagung zum Thema „150 Jahre Kaiserreich“, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert vergangene Woche mit. „Darüber hinaus befördert die Kulturstaatsministerin eine  Sonderausstellung der Otto-von-Bismarck-Stiftung mit dem Titel ‘18.  Januar 1871– Kaiserproklamation in Versailles’“.  Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier tauschte sich dieser Tage mit Historikern über das historische Datum aus. (vo)