© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

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Linker Intellektueller des Inzests bezichtigt

PARIS. Ein am 7. Januar erschienenes Buch von Camille Kouchner erschüttert den vorpolitischen Raum in Frankreich. Die 45jährige Jura-Dozentin beschuldigt darin ihren Stiefvater, den Politologen und Verfassungsrechtler Olivier Duhamel, des wiederholten sexuellen Mißbrauchs ihres Zwillingsbruders. Die Taten sollen sich ab Ende der 1980er Jahre zugetragen haben, als sie und ihr Bruder 13 Jahre alt waren. Die Pariser Staatsanwaltschaft hat nach der Veröffentlichung des Buches „Die große Familie“ („La familia grande“, Seuil 2021) ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Der 70jährige Duhamel dementierte die Anschuldigungen nicht und reagierte umgehend mit seinem vollständigen Rückzug von allen Ämtern. Duhamel war unter anderem Präsident der Fondation Nationale des Sciences Politiques (FNSP), der Aufsichtsbehörde von Sciences Po (IEP de Paris), Frankreichs Elitehochschule. Dort geriet umgehend auch IEP-Direktor Frédéric Mion unter Druck, da er einräumen mußte, von den Vorwürfen bereits seit 2019 gewußt zu haben, ohne auf Konsequenzen durch Duhamel zu drängen. Nach Angaben von Kouchner hat sie bereits 2008 ihrer 2017 verstorbenen Mutter, Évelyne Pisier, gegenüber angedeutet, das Thema publik machen zu wollen, was diese damals strikt ablehnte. Duhamel gilt als einer der Väter der „Verfassung der Europäischen Union“, die aufgrund eines ablehnenden französischen Referendums 2005 nicht in Kraft gesetzt und 2009 durch den Vertrag von Lissabon ersetzt wurde. Von 1997 bis 2004 war Duhamel Europaabgeordneter der Sozialisten (PS). Als charismatischer Professor prägte er über Jahrzehnte das Rechts- und Politikverständnis der französischen Verwaltungselite an der Sciences Po in Paris und war Stichwortgeber für Frankreichs Linke. (ftm)

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