© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Freie Bahn jedem Tüchtigen
Ein Land der Verheißung: Zum Lebensgefühl in der Zeit der Reichsgründung 1871
Eberhard Straub

Der Protagonist der deutschen Reichseinigung von 1871 war das Volk. Studenten, Turner und Sänger nahmen während ihrer großen Feste in den Jahrzehnten zuvor das gemeinsame Vaterland schon vorweg. Ein akademischer Stil als verbindliche Lebensform der Gebildeten sah es als seine Aufgabe an, unter möglichst allen Deutschen den Willen zur Nation zu kräftigen oder überhaupt erst zu wecken. In zahllosen Vereinen bekundeten Deutsche ihr Streben nach Einheit und Eintracht. Im Krieg gegen Frankreich kämpfte ein Volksheer, dessen Siege dazu beitrugen, daß sich eine deutsche Nation konstituieren konnte. Die nationale Einigkeit war die Voraussetzung für die Freiheit in Form vieler Freiheiten, die den Staat als Rechtsstaat sittlich legitimierten.

Die bürgerlichen Freiheiten hingen unmittelbar mit der humanistischen Bildungsidee zusammen, die zu innerer Freiheit und geistiger Selbständigkeit erziehen wollte. Es widersprach dieser Idee überhaupt nicht, wenn sich Arbeiter oder Kleinbürger zu freien Menschen und damit zum mündigen Staatsbürger bilden wollten. Bildungsvereine aller Art setzten es sich zum Ziel, die bürgerliche Bildung den Bürgern zu entreißen und sie zu einer allgemeinen Bildung zu machen. Sie konnten sich auf die im In- und Ausland verbreitete Vorstellung berufen, daß nicht bessere Gewehre die Überlegenheit deutscher Soldaten ausmachten, sondern die Volksschule. Diese sorgte nicht nur für vollständige Alphabetisierung. Dort wurden die Schüler mit einigen Gedichten, Liedern und Balladen sowie historischen und naturkundlichen Kenntnissen vertraut gemacht, die erst eine allgemeine Kultur ermöglichten und darüber eine gewisse Selbständigkeit im Denken und Tun,  das Gegenteil von blindem Gehorsam. Daran knüpften Sozialdemokraten und Katholiken  an, um ganz liberal zur  Hilfe durch Selbsthilfe aufzumuntern.  

Diese Absicht hielt die meisten Arbeiter, Kleinbürger und Katholiken in ihrem Milieu fest. Aber dieses Milieu machte sie innerhalb seines regen Vereinslebens beweglich, neugierig und befähigte Ehrgeizige zum Aufstieg ins Bildungs- oder Wirtschaftsbürgertum. Die Zeit des sogenannten Wilhelminismus war eine Zeit bislang ungeahnten gesellschaftlichen Wandels, der freie Bahn jedem Tüchtigen verhieß.

Der liberale Rechtsstaat war ein Staat für Freie, deren Freiheit er nicht einschränken oder „interpretieren“ durfte. Denn der liberale Bürger paßte sehr genau auf und hielt den Staat dazu an, sich in seinen Grenzen zu halten. Das gelang ihm, da in der Verwaltung, in den Gerichten, selbst im Heer, in Schulen und Hochschulen ohnehin, der Respekt vor dem eigenwilligen Geist, der weht wo und wie er will, eher zu- als abnahm. Außerdem legten gerade gebildete und vermögende Bürger höchsten Wert auf ihre Freiheit vom stets zur Bevormundung neigenden Staat, gar nicht anders als Sozialdemokraten oder Katholiken.

In Konkurrenz zum Staat gründeten sie als Stifter und Mäzene Museen, Forschungseinrichtungen, Theater, Opern, zuletzt in Frankfurt 1914 eine Universität. Bürger in Frankfurt, Leipzig oder Breslau, auf ihre Freiheit bedacht, waren nicht nur tolerant und ohne Furcht vor sogenannten Intoleranten; sie gewährten, wie Goethe es verlangt hatte, Anerkennung und Achtung auch recht ungewöhnlichen Anschauungen und deren Verfechtern.

Übrigens verhielten sich die Bürger und sogar die Fürsten in den Residenzen gar nicht anders. Alle waren auf ihre Freiheit bedacht und konnten daher höchstens mit sehr schlechtem Gewissen anderen in ihrer Lebenslust beschwerlich fallen. Anhänger herkömmlicher Konventionen, philosophischer Schulmeinungen oder historisch-politischer Überzeugungen fügten sich darein, nicht unumstritten zu sein. Zeitschriften und Vortragsveranstaltungen boten jedem, der für seine Meinung werben wollte, das geeignete  Forum. Professoren, Schulmänner, Berufsvertreter, Künstler, ja selbst Bohémiens bewahrten das ewige Gespräch der bürgerlichen Gesellschaft davor, ins Stocken zu geraten.

Das Bürgertum war eine diskutierende Klasse. In einem beliebten Chanson ging es um die Frage: Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben? Ja, warum nicht? Aber warum soll der gewissenhafte Arbeiter sich nicht auch einmal einen Jux machen, tanzen, Akkordeon spielen und in der Frau noch anderes als den gemeinsamen Klassenstandpunkt suchen? Warum soll nicht endlich Luft und Licht in die mit ihrer Pracht fast niederdrückenden Salons der Bankiers und Reeder eindringen, in die Herrenzimmer der Verleger und ihrer Autoren oder in die Hinterzimmer der Parteipolitiker?

Schüler und Studenten suchten mit offenem Schillerkragen und in kurzen Hosen als Wandervogel eine neue Selbstverwirklichung, ganz natürlich in der freien Natur. Andere schlossen sich irgendwelchen Meistern an, die von klassischer Haltung raunten, schwammen in antiker Nacktheit oder nahmen Lichtbäder, um in der Sonne der Freiheit unbeschwert von jeder künstlichen Mode ganz nahe zu kommen. Alle schwärmten für die Flotte. Der Matrosenanzug wurde zur nationalen Tracht, die kaiserliche Prinzen und  Arbeiter einander anglich, die damit bekundeten, zu einem Volk von Seefahrern zu gehören.   

Sport und Pflege der Körperlichkeit ebneten die Unterschiede ein. Adel und Unternehmer schlüpften beim Autofahren in phantastische Kostüme, Radfahren, Tennisspielen, Gebirgswandern, bald Skifahren oder Rodeln erforderten die dazu passende Kleidung, die frühere Standestrachten ersetzte. Der Aufbruch in die Freizeitgesellschaft egalisierte den Geschmack und die Vergnügen. Alle hörten die gleichen Schlager, lernten die neuen Tänze, besuchten abenteuerliche Nachtlokale oder Kleinkunstbühnen, wo sämtliche Tugenden einer tüchtigen Erwerbsgesellschaft verspottet wurden.

Berufstätige jeder Richtung, nicht nur Professoren oder Volksschullehrer, waren dauernd auf der Suche, sich in dieser Welt zurechtzufinden, in der Leben und Kunst, Arbeit und Schönheit offenbar unvereinbar waren. Alle strebten danach, diese Kluft zu überbrücken und die Freiheit wieder mit der Schönheit zu vermählen. Dieses dauernd unruhige und suchende Reich der Deutschen zog wie das Licht die Motte alle Suchenden in Europa an. Jeder Unsinn konnte in diesem Reich grenzenloser Freiheiten als Sinnstiftung begriffen werden.

Das Deutsche Reich war ein Tummelplatz für alle, die nach neuer Kunst, neuer Malerei, neuer Lyrik, neuer Religion, überhaupt nach Leben, einem ganz neuen, ganz anderen Leben verlangten.  Richard Wagners Festspiel und weltweit der „wagnerisme“ handelten von der Hoffnung, Berufsmenschen den Weg in ein inneres Reich der Schönheit und Freiheit zu weisen, in dem sie durch die Kunst von allen Widrigkeiten moderner Selbstentfremdung erlöst werden.

Das Deutsche Reich als Reich der Freien war deshalb ein Land der Verheißung. Allerdings hatte sich Wagners Loge von den Göttern getrennt. Als sie lachend ins angeblich sichere Walhall aufbrachen, bemerkte er: „Ihrem Ende eilen sie zu, / die so stark im Bestehen sich wähnen“.

Es gab immer wieder Historiker oder Philosophen, die von dem zu erwartenden Zusammenbruch ihrer Zeit ähnlich dem der klassisch-antiken Welt sprachen. Eine Stimmung vom nahenden Untergang des Abendlandes war als Furcht dauernd vorhanden. Nichts konnte solch trübe Ahnungen beruhigen. Mit dem Großen Krieg ab 1914 kam es zur Katastrophe und zur europäischen Götterdämmerung.