© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Überlegungen zu einem konservativen Verständnis von Tradition
Das Reich beginnt in dir
Wolfgang Fenske

Vielerorts wird in diesen Tagen der Reichsgründung von 1871 gedacht. Dabei reichen die Wertungen, je nach Standpunkt, von kaum verhohlener Geringschätzung bis hin zu offener Bewunderung. Letztere ist naturgemäß eher im konservativen Lager anzutreffen. Man druckt Themenhefte oder veröffentlicht Elogen, die zeigen sollen, welche Vorzüge ein Leben im zweiten deutschen Kaiserreich gegenüber den Zuständen heute hatte. Und wenn Corona nicht dazwischengekommen wäre, hätten studentische Verbindungen landauf, landab in Kommersen das alte Reich hochleben lassen. All das ist nicht zu beanstanden, solange man sich bewußt bleibt, daß solche Formen des Gedenkens bestenfalls bildungsbürgerlich, vielleicht nostalgisch, in jedem Falle aber unpolitisch sind.

Gewiß, historische Erinnerung ist für eine Nation unverzichtbar. In ihrer Geschichte schaut sie sich an, erkennt sich selbst und vergewissert sich immer wieder neu ihrer Identität. An Art und Umfang dieser Erinnerung – in Texten und Bildern, Denkmälern und Bauten – entscheidet sich, welche Persönlichkeiten, Ereignisse und Prozesse im kollektiven Gedächtnis einer Nation präsent bleiben und welche dem Vergessen anheimgegeben werden.

Etwas anderes ist es, wenn aus historischen Begebenheiten Traditionen erwachsen. In der Tradition wird die Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben, und Ereignisse der Vergangenheit werden in Erzählungen und Texten, Liedern und Melodien, Festen und Ritualen gegenwärtig. Tradition ist also, wenn man so will, das Paradox der Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart.

Die Proklamation des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871, formal ein feierlicher Akt im Zusammenhang mit der Gründung des ersten deutschen Nationalstaates, war wegen der Ausrufung eines „Reiches“ unter der Regentschaft eines „Kaisers“ für Konservative von Anfang an mehr als ein Datum der Erinnerung. Unbeschadet mancherlei Irrungen und Wirrungen im Vorfeld der Proklamation, die das Selbstverständnis des neuen Staates und seines Regenten bis zuletzt im unklaren hielten, entwickelten sich aus der schlußendlich erfolgten Proklamation eines deutschen Kaiserreiches sehr bald eigene Narrative. So stand für viele Konservative außer Frage, daß mit der Reichsgründung nichts anderes als die „Wiederaufrichtung“ des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erfolgte, das 1806 untergegangen war. In seiner Erklärung vom 18. Januar, mit der König Wilhelm I. von Preußen die Kaiserwürde annahm, bekannte er sich in einer klassischen Formel denn auch dazu, „allzeit Mehrer des Reiches“ („semper Augustus“) zu sein. Und auch der neue Deutsche Reichstag ließ in seiner ersten Verlautbarung keinen Zweifel daran, daß er das neue Reich in der Tradition des alten sah.

„Deutschland besaß die Idee seiner Einigung. Aber sie war eine nunmehr verwirklichte Idee. Und verwirklichte Ideen sind matte Bilder, doch ganz ohne Wirklichkeitskraft, sofern sie nicht wieder und wieder errungen werden. Wir aber errangen nicht mehr.“

Wenngleich zeitgenössische Historiker und Staatsrechtler ob dieser Deutung auch mehrheitlich die Stirn runzelten: Zum ersten Mal seit 1806 war Deutschland wieder als Reich in Erscheinung getreten. Die Woge der nationalen Begeisterung, die über das Land ging, machte für lange Zeit vergessen, daß dieses Reich „weder einen völkischen Gehalt noch einen imperialen Sendungsauftrag“ (Hans-Joachim Schoeps) hatte.

Grundlegend änderte sich die Sicht auf die Reichsgründung in weiten Teilen der Konservativen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Untergang der Monarchie. Insbesondere in der außerparlamentarischen intellektuellen Rechten der Zwischenkriegszeit, die seit Armin Mohler unter dem Begriff der „Konservativen Revolution“ zusammengefaßt wird, wurde fundamentale Kritik am wilhelminischen Kaiserreich laut. So schrieb der jungkonservative politische Schriftsteller Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) zur Reichsgründung 1871: „Deutschland war jetzt ohne Idee. Es besaß die Idee seiner Einigung. Aber sie war eine nunmehr verwirklichte Idee. Und verwirklichte Ideen sind matte Bilder, vielleicht aufgemalte Erinnerungen an ruhmvolle Gewesenheiten, doch ganz ohne Wirklichkeitskraft, sofern sie nicht wieder und wieder errungen werden. Wir aber errangen nicht mehr. Wir beruhigten uns bei uns selbst. Wir wurden die materialistischen Menschen eines sich materialisierenden Zeitalters. … Wir waren ganz Nachgeborene, die ihre Pflicht getan zu haben glaubten, wenn sie ihr Erbe akademisch pflegten.“

Einer solchermaßen oberflächlichen, bloß „akademischen“ Traditionspflege widersprachen die Jungkonservativen leidenschaftlich. Dem metaphysisch entleerten und historisch gescheiterten Kaiserreich setzte der Publizist Edgar Jung (1894–1934) deshalb ein „Reich auf religiöser Grundlage“ entgegen: „Es gibt nur eine Stelle, wo Menschen und Völker gleich sind: vor Gott. Das Leben dieser Welt aber ist vielgestaltig, beruht auf Unterschied und Kampf, erhält seinen Sinn von Rang und Wert. Die große Aufgabe der Politik ist die Ordnung unter Ungleichen, sei es unter Menschen oder unter Völkern. Diese Ordnung wird es nicht geben ohne Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist unmöglich ohne Herrschaft. Berufen zur Herrschaft aber ist, wer die Macht in der Gnade Gottes ausübt. Im Reiche erfüllt sich die Sehnsucht nach der Herrschaft des Göttlichen auf Erden, über dem Reiche schwebt eine unsichtbare Krone.“

Es wäre nun kein größeres Mißverständnis denkbar, als in Jungs Formel von der „Gnade Gottes“ beziehungsweise der „Herrschaft des Göttlichen auf Erden“ einen Rückfall in das wilhelminische Bündnis von „Thron und Altar“ zu erblicken. Vielmehr ist die transzendente, wenigstens aber metaphysische Dimension menschlicher Existenz eine konstitutive Bedingung der jungkonservativen Reichsidee. Sie erst ermöglicht es dem Menschen, sein eigenes Leben „einzustufen in ein großes Gesamtleben, welches im Gegensatze zu seinem eigenen Leben nicht Begrenztheit ist, sondern Ewigkeitszug hat. So gelingt es dem Einzelmenschen, durch einen schöpferischen Akt in seiner eigenen Seele den Drang nach Ewigkeit … zu befriedigen und dadurch über die Qual des Bewußtseins vergänglicher Einmaligkeit hinauszuwachsen.“

Dem Frontsoldaten, der aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs heimgekehrt war, dürfte die Rede von einem metaphysisch beziehungsweise religiös geborgenen Menschen ähnlich suspekt geworden sein wie dem nachmetaphysischen Zeitgenossen unserer Tage. Gleichwohl ist sie für jedes konservative Weltbild leitend. Denn wird die metaphysische Dimension menschlicher Existenz ignoriert, so kommt es zu dem, was Jung die „Rache des mißhandelten metaphysischen Triebes“ nannte: Dieser dem Menschen innewohnende Trieb nach Höherem, nach Idealität, ja letztlich nach Gott, richtet sich dann auf das Diesseits, um jene Güter, die der metaphysischen Welt vorbehalten sind, insbesondere Freiheit und Gleichheit, auf gesellschaftlicher Ebene zu erzwingen – und sei es mit totalitären Mitteln. Die weitere Geschichte hat die Richtigkeit dieser Annahme bis in unsere Tage hinein bestätigt.

Nach dem vorläufigen Verlust der äußeren Gestalt dieses Reiches und dem Wegbrechen seines metaphysischen beziehungsweise transzendenten Überbaus war die von den Jungkonservativen eingeleitete 

Innenwendung unvermeidlich.

Diese nur oberflächliche Sichtung jungkonservativer Stimmen zum Reichsgedanken zeigt: Wer heute aus dem zweiten deutschen Reich eine Tradition ableiten will, ohne dessen metaphysischen beziehungsweise transzendenten Überbau ernst zu nehmen, bleibt hinter der konservativen Kritik der 1920er Jahre zurück. Zugleich erweist er allen Versuchen, die Tradition des abendländischen Reiches für konservatives Denken fruchtbar zu machen, einen Bärendienst, da auch er – wenngleich mit besten Absichten – unweigerlich der „Rache des mißhandelten metaphysischen Triebes“ zum Opfer fällt.

Dem Konservativen eignet ein pessimistisches Menschenbild, ganz gleich, ob er dies mit dem biblischen Sündenfall (Genesis 3) begründet oder den Menschen als „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) betrachtet. Folglich kann das Vorfindliche, die menschengemachte Tradition, nicht das sein, was der Konservative zu sichern hat. Statt dessen gilt nach Moeller van den Bruck: „Konservativ ist, immer wieder einen Anfang zu setzen.“ Konservativsein bedeutet also nicht, die Tradition zu tradieren, die sich dabei immer weiter von ihrem Ursprung entfremdet. Konservativsein bedeutet vielmehr, immer wieder zum Ursprung zurückzukehren. Die Tradition ist für den Konservativen demnach nicht der Gegenstand der Pflege und Bewahrung, sondern lediglich ein sekundäres Phänomen. Sie ist das, was beim je neuen Setzen des Anfangs, beim je neuen Durchgang durch den Ursprung in zeitlicher und räumlicher Ausdehnung sichtbar wird. Diesen Ursprung hat der Konservative aufzusuchen, zu bewahren und fruchtbar zu machen.

Was aber steht im Anfang des Reichsgedankens? „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“, ruft Christus den Pharisäern zu (Lukas 17,21), als diese von ihm wissen wollen, wann und wo das Reich Gottes zu finden sei. Man geht nicht zu weit, wenn man im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation das Urbild des zweiten Reiches und (mit Joachim von Fiore) im Reich Gottes das Urbild jenes ersten Reiches erblickt. Doch nach dem vorläufigen Verlust der äußeren Gestalt dieses Reiches und dem Wegbrechen seines metaphysischen beziehungsweise transzendenten Überbaus war die von den Jungkonservativen eingeleitete Innenwendung unvermeidlich.

Das Reich von 1871 ist heute mit gutem Grund Gegenstand historischen Gedenkens, doch bietet es keine Tradition, an die sich fruchtbringend anknüpfen ließe. Umgekehrt lassen neuere Überlegungen zu einem europäischen Staatenbund, der auf einem „abendländischen Patriotismus“ fußen soll, abermals eine gemeinsame Staatsidee vermissen.

Wer heute an die Tradition des Reiches anknüpfen will, wird bei sich selbst einsetzen müssen. Er wird dies tun in der ständigen Rückbesinnung auf dessen ursprüngliche Prinzipien in Ethik, Anthropologie und Staatslehre, wie sie vielfach beschrieben und von den Vertretern der jungkonservativen Bewegung neu angeeignet wurden. Von diesem Fundament her vermag er sich den politischen Fragen der Gegenwart zu öffnen, ohne zu vergessen, daß sie nur vorläufig sind und ihrer endzeitlichen Beantwortung harren. Ob das Reich je wieder in Erscheinung treten wird, läßt er offen. Doch er wartet zu in Geduld, bis womöglich eines Tages das „entsiegelnde Wort“ (Helmuth Plessner) laut wird und Gott wieder Gnade gibt.






Dr. Wolfgang Fenske, Jahrgang 1969, studierte evangelische Theologie in Berlin, Oberursel und Jena. Anschließend Pfarrer in Niedersachsen. Seit 2011 ist er Leiter der Bibliothek des Konservatismus in Berlin.

 www.bdk-berlin.org

Foto: Der Berliner Dom, erbaut nach der Reichsgründung zwischen 1893 bis 1905 als repräsentatives Gotteshaus (Photochrom, um 1905): Wer heute aus dem zweiten deutschen Reich eine Tradition ableiten will, ohne dessen transzendenten Überbau ernst zu nehmen, bleibt hinter der konservativen Kritik der 1920er Jahre zurück.