© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Freibrief zur Zerstörung des Regenwaldes
Schon lange vor der Präsidentschaft des Brasilianers Jair Bolsonaro schrumpfte die Lunge der Welt
Christoph Keller

Noch erstreckt der Regenwald am Amazonas sich über sechs Millionen Quadratkilometer und neun Staaten Südamerikas. Das entspricht dem Anderthalbfachen der Fläche aller 27 EU-Staaten. Zu Recht nennt daher der Physiker und Wissenschaftsphilosoph Dirk Eidemüller dies die „größte biologische Schatzkammer unseres Planeten“ (Natur, 1/21). Und zwar trotz des hohen Tributs, den dieses Paradies der Biodiversität dem Aufstieg Brasiliens in die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) hat entrichten müssen.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gingen zwanzig Prozent der zu drei Viertel auf brasilianischem Territorium liegenden Regenwaldbestände durch Abholzung verloren. Weitere zwanzig Prozent sind durch veränderten Niederschlag beeinträchtigt. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie (BGC Jena), auf die sich Eidemüller beruft, warnen davor, daß der „Kippunkt“ beängstigend rasch näher rückt. Ab einer Abholzungsquote von 25 Prozent werde es „kritisch“.

„Wirtschaft first, Bedenken second!“

Unter der Militärdiktatur (1964–1985) begannen massive Brandrodungen zur Gewinnung zusätzlicher Agrarflächen, die fünf Jahrzehnte anhielten. Der „Agrarweltmeister“ Brasilien mit seinen 212 Millionen Einwohnern kann daher mit seiner Großlandwirtschaft inzwischen fünfmal so viele Erdenbewohner zusätzlich mit ernähren. Erst in der zweiten Amtszeit des Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2007–2010) und unter Dilma Rousseff (2011–2016; beide von der linken Arbeiterpartei/PT) ging die Verwandlung von Amazonaswald in Weide zurück.

Mit Michel Temer wurde das Rad zurückdreht: Der wirtschaftsliberale Kurzzeitpräsident ernannte einen Soja-Unternehmer zum Agrarminister. Unter Jair Bolsonaro erfolgte 2019 der totale Kurswechsel nach dem FDP-Motto: „Wirtschaft first, Bedenken second!“ Ökologische Schutzstandards wurden gesenkt, Abholzern wurde faktisch Straffreiheit garantiert. Die Terras Indígenas, die geschützten Gebiete der Ureinwohner, wurden teilweise zur Ausbeutung freigegeben. Der brasilianischen Umweltforschung wurden die Fördergelder gekürzt – all das mit Langzeitfolgen.

Als die Satellitenaufnahmen von 70.000 Bränden im Regenwald die Weltöffentlichkeit empörten (JF 36/19), wurde der Direktor der Weltraumbehörde INPE, Ricardo Galvão, zum Rücktritt genötigt. Von August 2019 bis Juli 2020 gingen etwa 11.000 Quadratkilometer Regenwald durch Brandrodung verloren, zehn Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Für Eidemüller hebt sich damit der Vorhang zum letzten Akt des Dramas mit dem Titel: „Freibrief zur Regenwaldzerstörung“. Er vermeidet es jedoch, die Verantwortung für die katastrophalen Folgen falscher ökologischer Weichenstellungen von Jahrzehnten allein bei Bolsonaro abzuladen, der in westlicher Medien ohnehin als „Tropen-Trump“ geschmäht wird.

Allerdings bleibt bei Eidemüller die grüne Begeisterung für den „Biosprit als Treibstoff der Zukunft“ diskret unerwähnt: „Die brasilianische Zucker- und Äthanolwirtschaft ist gut kapitalisiert, höchst wettbewerbsfähig und verfügt über eine starke technologische Innovationsfähigkeit“, verkündeten die Bundestagsabgeordneten Bärbel Höhn, Jürgen Trittin und Thilo Hoppe im Juli 2007 anläßlich einer Fernflugreise nach São Paulo und in den Bundesstaat Bahia. „Zu den 360 heute existierenden Zuckerfabriken werden in den nächsten Jahren voraussichtlich weitere 120 hinzukommen.“ Die Grünen-Politiker verlangten eine Zollreduzierung und „Gleichstellung mit fossilen Energieimporten“ sowie eine Förderpolitik, „die neben Biodiesel auch Biogas und Biomasse als strategische Elemente der Bioenergiepolitik einbezieht“.

Anreize für den Anbau von Soja, Zuckerrohr und Mais?

Damals wurden neun Prozent der brasilianischen Ackerfläche für den Zuckerrohranbau (etwa hälftig für Zucker und Äthanol) genutzt. Eidemüller nimmt dafür den „European Green Deal“ aufs Korn: Die EU-Kommission blinke unablässig „grün“, um den deutschen Steuerzahler für die Fata Morgana „Klimaneutralität 2050“ zur Ader lassen, biege aber just dann neoliberal ab, wenn sie mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay einen Handelsvertrag schließen will. Das sehe den Abbau von Zollschranken für Pestizide, Dünger sowie Industriegüter vor, die helfen sollen, Agrarflächen in Amazonien auszuweiten.

Dies schaffe weitere Anreize für den Anbau von Soja, Zuckerrohr und Mais, es sei „eine Gefahr für den Regenwald“, zitiert er Handelsexpertin Bettina Müller vom Berliner Ökoverein „PowerShift“. Das EU-Mercosur-Abkommen fiel im Herbst 2020 im EU-Parlament durch, aber eher wegen des Widerstands aus Frankreich und Polen. Der Text weise als „fundamentale Schwachstelle“ auf, daß Rechte in bezug auf Umwelt, Arbeitsschutz und indigene Völker nicht einklagbar seien.

Die EU-Kommission werde aber, wenn sie die Billigimporte fürchtenden Agrarlobbyisten besänftigt habe, das Abkommen unterzeichnen – also Bolsonaros Rodungspolitik profitabel unterstützen. Die EU könne sich aber nicht gegen die Aufheizung der Erdatmosphäre stemmen und gleichzeitig einen gigantischen CO2-Speicher wie die „Lunge der Welt“ zerlöchern. „Die starke Abholzung verstärkt den Effekt des Klimawandels“, stellt der von Eidemüller konsultierte Kolumbianer Carlos A. Sierra lakonisch fest. Der Forstwissenschaftler leitet das am Amazonas stationierte BCG-Team und erläutert zusammen mit dem Meteorologen Stefan Wolff (Max-Planck-Institut für Chemie), daß Klimawandel weniger mit deutschen Kohlekraftwerken oder Automotoren als mit dem Teufelskreis zu tun hat, den der Raubbau im Regenwald in Gang setzte.

Für die Entstehung solcher grünen Üppigkeit herrschten in Amazonien ideale Bedingungen: Passatluftmassen nehmen über dem Südatlantik riesige Mengen an Feuchtigkeit auf und transportieren sie westwärts. Da sie die bis zu 7.000 Meter hohe Anden-Barriere so schwer beladen nicht überwinden können, entledigen sie sich ihrer Fracht über dem Amazonasbecken. Nur dank dieser geophysikalischen Konstellation versorgen sie ganz Südamerika mit ihrem Naß, so daß dieser Erdteil ungewöhnlich grün ist, während sonst in den subtropischen Breitengraden das Gelb der Savannen und Wüstengebiete vorherrscht, so wie an der afrikanischen Gegenküste.

Wenn jedoch das Wasser dieser „fliegenden Flüsse“ in der Region nun schneller abfließt, weil der durch Rodung dezimierte „Schwamm“ Regenwald immer geringere Mengen davon aufsaugt, leiden auch die noch intakten, nicht planierten Waldzonen unter Wassermangel und verwandeln sich in Trockenwald und Savanne. Was wiederum den „Klimawandel“ in dem Maß antreibt wie die Kohlenstoff-Speicherkapazitäten Amazoniens schrumpfen.

Amazon Tall Tower Observatory (ATTO):

 www.attoproject.org

 www.bgc-jena.mpg.de