© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Der Flaneur
Stummes Verneigen
Paul Leonhard

Die Fahnen vor dem Rathaus mit den Stadtwappen knattern im Wind. Aus dem Hotelzimmer blicke ich neugierig über den Markt der alten Stadt. Da flackert unruhig ein Dutzend roter Grablichter. Und fast jeder der wenigen Spaziergänger, die hier ihre morgendliche Runde drehen, ändert bei diesem Anblick seine geplante Route, läuft zum Eingangstor des Rathauses und verneigt sich stumm.

Es dauert eine Weile bis ich begreife, daß die Menschen sich gar nicht verneigen, sondern sich nur neugierig herabbeugen, um entziffern zu können, warum hier Kerzen brennen. Ich will es auch wissen, verlasse das Hotel und beuge kurz darauf auch den Oberkörper. Hier wird der Demokratie gedacht, die vom Staat beerdigt wurde, belehrt mich ein Stück Papier.

Auf der Straße sind keine Menschen, nur eine Radiostimme schallt aus einem Fenster.

Keine 30 Schritt weiter folgt ein Gebotsschild, das wohl das Ordnungsamt mitten auf den Zugang zur schmalen Einkaufsstraße gestellt hat. Diese sei nur mit Maske zu betreten. Zwar haben die Cafés ebenso geschlossen wie auch die meisten Geschäfte, um diese Zeit sowieso, und es ist außer mir kein weiterer Mensch zu sehen, trotzdem ziehe ich die Maske hervor und auf. Denn am anderen Ende der nicht einmal 200 Meter langen Straße sehe ich weißen Rauch aus einem Auspuff qualmen. Da steht ein blausilberner Streifenwagen und lockt nicht nur mit „verdächtig sicheren Jobs“, sondern droht ebenso mit einem Ordnungsgeld, so ich ohne gestempeltes ärztliches Attest keine Maske trage.

Immerhin ist es so frisch, daß ich die Maske nicht einmal als unangenehm empfinde. Ich biege ab und durchstreife enge Gassen mit Kopfsteinpflaster. Nirgendwo ein Mensch. Aus einem offenen Fenster ertönt eine Radiostimme. Ein Minister appelliert an die Menschen, die neuen Maßnahmen zum Nutzen aller einzuhalten, um abschließend Widerspenstigen zu drohen. Es ist alles so surreal, daß ich nach meiner Dienstreisebestätigung taste und mich entschließe, schnell wieder ins Hotel zu gehen. Die Lichter vor dem Rathaus sind da schon verschwunden.