© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Abkehr vom Präsenzprinzip
Wahlrecht: Über Kandidaten für den Bundestag oder Landtage soll künftig auch digital abgestimmt werden
Jörg Kürschner

Angesichts der anhaltenden Pandemie sorgt sich die Politik im Superwahljahr 2021 um die Rechtssicherheit der Bundestagswahl und sechs Landtags- sowie einiger Kommunalwahlen. Es geht um eine Online-Aufstellung der Kandidaten ohne die bisher üblichen Präsenzveranstaltungen, deren fristgerechte Durchführung oft an den Corona-Einschränkungen scheitert. Erneut steht das sensible  Mitspracherecht der Legislative gegenüber der Exekutive im Fokus.

Jahrzehntelang haben Delegierte auf Kreis- und Landesparteitagen Kandidaten für anstehende Wahlen nominiert. Das Bundeswahlgesetz legte fest, daß Kandidaten und Delegierte auf den Versammlungen persönlich anwesend sein müssen. Die im Herbst vom Bundestag gegen die Stimmen der Opposition beschlossene Neuregelung ermächtigt das Bundesinnenministerium „im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses höherer Gewalt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundestages von den Bestimmungen über die Aufstellung von Wahlbewerbern abweichende Regelungen zu treffen …“. 

AfD, FDP, Linke und Grüne hatten die Ermächtigung als zu unbestimmt kritisiert, da diese nicht nur die gegenwärtige Pandemie, sondern auch Naturkatastrophen und Fälle höherer Gewalt erfasse. Das Wahlrecht sei die ureigenste Sache des Parlaments, weswegen Notfälle nur per Gesetz des Bundestages und nicht per Verordnung eines Ministeriums geregelt werden dürften.

„Wir werden das sehr genau prüfen“

Da die Ermächtigung des Innenministers an die Zustimmung des Parlaments gebunden ist, hat der Bundestag zunächst durch Beschluß auf Antrag der Koalition festgestellt, daß „die Durchführung von Versammlungen für die Wahl der Wahlbewerber und der Vertreter für die Vertreterversammlungen zumindest teilweise unmöglich ist“. Damit ist der Weg frei für die Verordnung des Innenministeriums. 

Während der Debatte zeigte sich in der vergangenen Woche aber, daß die grundsätzlichen Vorbehalte der Opposition nicht ausgeräumt worden sind. Von einem „seltsamen Verfahren“ sprach etwa der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle, bestand auf einem „Primat der Präsenzveranstaltungen“ in der Verordnung. „Nur dann werden wir zustimmen.“ Der AfD-Parlamentarier Jochen Haug bemängelte, Union und SPD wollten „ein wichtiges Prinzip der Demokratie preisgeben, das Prinzip der Präsenzversammlung“. Das aktuelle Infektionsgeschehen rechtfertige keine Abkehr von diesem Prinzip. 

Der CDU-Abgeordnete Ansgar Heveling versicherte: „Wir werden das dann auch sehr genau prüfen und nicht einfach durchwinken.“ Eine Verschiebung der für den 26. September geplanten Bundestagswahl wäre unvereinbar mit dem Grundgesetz, suchte er zu beruhigen. Allerdings hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Sommer eine durch Verfassungsänderung verlängerte Wahlperiode nicht völlig ausgeschlossen. Es seien aber zwingende Gründe erforderlich, die etwa in der faktischen Nichtdurchführbarkeit einer Wahl liegen könnten. 

Gegen die Stimmen der AfD hat der Bundestag sodann die Ausnahmeregelung beschlossen. Mit einiger Spannung erwarten die Abgeordneten jetzt den Text der Rechtsverordnung, die Innenminister Horst Seehofer (CSU) noch in diesem Monat vorlegen will. Billigt der Bundestag auch diese Vorlage, können die Parteien Kandidaten digital oder per Briefwahl nominieren. 

Daß die Rechtssicherheit von Wahlen akut gefährdet sein kann, konnten die Bundestagsabgeordneten am Beispiel Thüringens studieren. Ursprünglich sollte der Landtag am 25. April gewählt werden. Darauf hatten sich die rot-rot-grüne Minderheitsregierung und die oppositionelle CDU geeinigt, die aufgrund eines „Stabilitätsmechanismus“ seit dem erzwungenen Rücktritt des zunächst zum Ministerpräsidenten gewählten FDP-Politikers Thomas Kemmerich vor knapp einem Jahr (JF 8/20) zusammenarbeiten. Regulär würde erst 2024 wieder gewählt. Aufgrund der hohen Infektionszahlen im Freistaat soll das Landesparlament nun am 26. September neu bestimmt werden; zusammen mit dem Bundestag und den Landtagen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. 

Daß Operationen am Wahlrecht stets die Chancengleichheit aller Parteien im Auge haben müssen, ist unbestritten unter Rechtswissenschaftlern. Dadurch fühlte sich der fraktionslose, 2017 auf der AfD-Liste gewählte Bundestagsabgeordnete Mario Mieruch offenbar ermutigt, in der Debatte über den Notfallmechanismus auf die Probleme von Kleinparteien aufmerksam zu machen. Betroffen wären etwa die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) oder die Liberal-Konservativen Reformer (LKR). Mieruch, seit Herbst LKR-Mitglied, verlangte in seinem Antrag, den Kleinparteien die Teilnahme an der Bundestagswahl zu erleichtern. 

Nicht im Bundestag vertretene Parteien müssen für ihre Zulassung zwischen 474 (Bremen) und 2.200 (Berlin) Unterstützer aufbieten, die die Kandidatur per Unterschrift befürworten. Eine Änderung sei „zwingend erforderlich“, da etwa die „15-Kilometer-Umkreisbeschränkung“ ein Sammeln der Unterschriften behindere oder gar unmöglich mache. In Rheinland-Pfalz hatte der Landtag kürzlich das für die Wahl am 14. März notwendige Quorum von 2.080 auf 520 Unterstützer abgesenkt. Im Bundestag wurde Mieruchs Antrag kommentarlos abgelehnt.