© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Pow-Wow von Schäubles Gnaden
Kriegsbeil gegen Politikverdrossenheit: Ein im Losverfahren zusammengesetzter Bürgerrat soll den Bundestag ergänzen
Ronald Berthold

Mit einem Bürgerrat gegen Politikverdrossenheit. In diesen Tagen nimmt ein Gremium seine Arbeit auf, das im Idealfall den Bundestag beraten soll. 160 repräsentativ ausgewählte Einwohner Deutschlands werden Vorstellungen für die Außenpolitik entwickeln – angeleitet von Experten.

Der Bürgerrat ist eine Idee des Vereins „Mehr Demokratie“ und der Initiative „Es geht los“. Die Schirmherrschaft übernimmt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). In zehn mehrstündigen Online-Sitzungen werden sich die ausgelosten Menschen Gedanken über Deutschlands Stellung in der Welt machen und Empfehlungen formulieren. Das Konzept soll am 19. März dem Parlament übergeben werden. Es könnte – so „Mehr Demokratie“ im auffälligen Konjunktiv – in eine „mögliche Behandlung im Bundestag“ oder eine „mögliche Überweisung in die Ausschüsse“ münden.

„Garanten einer offenen Gesellschaft“

Wichtig ist Schäuble, daß das Gremium „keine Konkurrenz zu den bewährten parlamentarischen Entscheidungsverfahren“ darstellt, „sondern eine sinnvolle Ergänzung“. Genauso sehen es die Initiatoren. Stets sind in den Papieren dem Begriff „parlamentarisch-repräsentative Demokratie“ die Worte „unsere bewährte“ vorangestellt. Das heißt, die vorrangige Vertretung des Volkes durch Abgeordnete wird nicht in Frage gestellt. Dennoch hat sich der Bürgerrat, als er im September 2019 erstmals vier Tage lang in Leipzig zusammenkam, für Volksentscheide ausgesprochen.

Allerdings hat er dafür zwei entscheidende Einschränkungen formuliert. Erstens: „Volksentscheiden soll immer ein Bürgerrat vorgeschaltet sein, um die Fragestellungen vorzubereiten und Informationen zusammenzutragen.“ Das Gremium dürfte Empfehlungen über Zustimmung und Ablehnung aussprechen; die direkte Demokratie verliefe in engen Leitplanken. Schirmherr Schäuble, hauptberuflich Chef der repräsentativen Volksvertretung, nutzt ebenfalls eine Konjunktiv-Formulierung, um die Bedeutung zu beschreiben: „Bürgerräte sind ein mögliches Instrument für mehr Mitsprache und Dialog in der repräsentativen Demokratie.“ Noch wichtiger scheint der zweite Punkt zu sein, mit dem der Bürgerrat vor 16 Monaten Volksentscheide einrahmte: „Ergebnisse von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie sollen grundsätzlich rückgängig gemacht werden können.“

Nach diesem Muster ist die repräsentative Politik mit dem Volksentscheid zum Weiterbetrieb des Berliner Flughafens Tegel verfahren. Trotz einer außerordentlich hohen Wahlbeteiligung von 71,3 Prozent und einer Zustimmung von 56,1 Prozent der Hauptstädter wurde die Entscheidung der Bürger vom September 2017 „rückgängig“ gemacht – durch das Parlament. Ein Dreivierteljahr später entschied das Berliner Abgeordnetenhaus mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken, daß „der mit dem Volksentscheid ‘Berlin braucht Tegel’ gefaßte Beschluß vom Senat nicht umsetzbar ist“. Ein CDU-Politiker nannte diese Entscheidung damals „eine Schande für das Parlament“.

Dennoch hofft Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von „Mehr Demokratie“, mit dem Bürgerrat „das Interesse an der Politik und der Demokratie zu wecken beziehungsweise es zurückzugeben“. Ihren seit vielen Jahren für mehr plebiszitäre Elemente engagierten Verein hat der Bundestag mit der Organisation des Bürgerrats beauftragt. Nierth: „Wir brauchen jetzt gute Techniken, die Konsens bilden und abbilden, die in der Gesellschaft wieder Brücken schließen und uns auch zusammenbringen.“

Daß der Bürgerrat als erstes Thema ausgerechnet Empfehlungen dazu erarbeiten wird, wie die Bundesrepublik künftig auf der weltpolitischen Bühne auftreten soll, erscheint unspektakulär. Ist doch das Interesse der Menschen an Innenpolitik traditionsgemäß deutlich größer. Denn diese betrifft die Deutschen unmittelbarer. Trotzdem darf man gespannt sein, ob es konkrete Formulierungen zur Rußland-Politik, etwa die Frage nach Sanktionen, der Umgang mit China oder die Einstellung zur Nato auf die Tagesordnung schaffen. Und wenn ja, welche Ergebnisse sie erbringen.

Vorgegeben sind fünf übergeordnete Themen: nachhaltige Entwicklung, Wirtschaft und Handeln, EU-Außenpolitik, Frieden und Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Jeder ausgeloste Teilnehmer wird einem Bereich zugeordnet. In immer wieder neu zusammengesetzten Kleingruppen soll er darüber mit den anderen diskutieren. Unterstützung gewähren „Fachleute“. Sie referieren über die Einzelthemen. Die große Runde aus allen 160 Bürgerräten stimmt schließlich über die Handlungsempfehlungen zur Außenpolitik ab.

Beim ersten Zusammentreffen im Herbst 2019 in Leipzig gab es zu fast allen ausgesprochenen 22 Empfehlungen Zustimmungsquoten von weit mehr als 90 Prozent. Selbst dem Punkt, daß alle Volkentscheide „grundsätzlich rückgängig gemacht werden können“, widersprachen nur 8 Prozent. Der Rest war dafür. Vorsitzende des Bürgerrates ist die frühere DDR-Bürgerrechtlerin und heutige Grünen-Politikerin Marianne Birthler. Sie sagt: „Menschen, die auf der Grundlage unserer Verfassungswerte und in Augenhöhe mit der Politik für einen lebendigen und steten öffentlichen Diskurs sorgen, sind die besten Garanten einer offenen Gesellschaft.“


 www.buergerrat.de