© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Grüße aus Bern
„Kennsch mi nüüd?“
Frank Liebermann

Neben meinem extrem guten Aussehen habe ich eine zweite Gemeinsamkeit mit dem Schauspieler Brad Pitt: Ich kann mir Gesichter sehr schlecht merken. Bei ihm ist es eine Krankheit, bei mir nur eine unterentwickelte Fähigkeit. In Corona-Zeiten verstärkt sich das Problem noch. Wenn alle mit Masken herumrennen, ist es noch schwieriger als früher zu erkennen, um wen es sich handelt.

Beim samstäglichen Einkauf im Wankdorfzentrum strahlt mich eine attraktive blonde Frau an. Ich bemerkte den Blick und lächelte. Zielstrebig lief sie in meine Richtung. Ihr Alter schätzte ich auf Ende Dreißig, sie war schlank und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. „Hoi Frank, wie geits?“, wurde ich angesprochen.

Hätte sie den Namen nicht gekannt, wäre mir das bedeutend lieber gewesen. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wer das war. Sie trug einen schwarzen Mundschutz, auf dem Straßsteinchen zu einer Krone geformt sind, was die Hälfte des Gesichts verdeckte. Mir blieb nichts anderes übrig, als in das Gespräch einzusteigen, um mir Zeit zu verschaffen. „Bestens, alles senkrecht. Und bei dir, alles beim alten?“

Dieses Thema darf heutzutage schließlich in keinem Gespräch fehlen! 

Munter fing sie an zu erzählen, daß sie vor ein paar Wochen die Firma gewechselt hätte und so weiter. Nach fünf Minuten Monolog fragte sie: „Und, wie häschs?“ Glück gehabt. Bei einer offenen Frage war es einfach möglich, drauflos zu plappern. Ich erzählte vom Streß im Job und dem notwendigen Corona-Test für die Vermeidung der Quarantäne.

Mit diesen unverfänglichen Geschichten kam ich davon. Nach ein paar weiteren Gesprächsrunden verabschiedeten wir uns, ohne daß mir bis dahin ihr Name eingefallen war oder woher ich sie kannte. Erst auf dem Heimweg blitzte es bei mir auf, es war eine ehemalige Studentin.

Nur zwei Tage später im Bahnhof. Wieder spricht mich eine junge Frau an: „Kennsch mi nüüd?“ Ich sage etwas zu schnell „Hallo“ und bemühe mein Gehirn. Sie lacht und legt gleich los: „Es isch ä Mischt mit dene Maske. Mer kennt sich nümer!“ Ich bestätige dies, dann folgt ein kurzes unangenehmes Schweigen. Sie wußte wohl auch nicht mehr, was sie sagen soll. „Also Tschouu Reto, häbs guad!“ „Ich bin aber nicht der Reto, sondern der Frank“, erklärte ich und mußte lachen. „Wir Glatzköpfe sehen halt alle gleich aus, und dann noch die Maske“, tröstete ich sie. Leicht verlegen schlich sie davon und schimpfte: „Schieß Maske.“