© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Justizreform, Medien, Abtreibung: Polen auf der Anklagebank
Keine Belehrungen nötig
Wojciech Osinski

Es vergeht offenbar kein Tag, an dem die Brüsseler Behörden nicht etwas an der polnischen Justizreform zu beanstanden hätten. Seit geraumer Zeit treibt die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau voran. Der Vorwurf: Die seit 2015 regierende konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) verstoße gegen rechtsstaatliche Grundregeln. Nachdem vor einem Monat Polen und Ungarn ein Veto gegen die Verknüpfung des EU-Haushalts mit einem nebulösen „Rechtsstaatsmechanismus“ ankündigten, drohte der Streit schließlich zu eskalieren. In Straßburg wurde dies erneut als Anlaß genutzt, um den „nationalen Egoismus“ der rücksichtslosen „Autokraten“ aus Ostmitteleuropa zu betonen und sie prompt auf die Anklagebank zu verweisen.

Wenn man jedoch genauer hinschaut, hielt sich Warschau an sämtliche Richtlinien, die in den EU-Verträgen verankert sind. Zutreffend stellte unlängst der polnische Premier Mateusz Morawiecki fest, daß die neue Regelung willkürlich auf andere Bereiche der Gesetzgebung ausgeweitet werden könne.

Die Justizreform wird in der EU als Hinrichtung des polnischen Rechtsstaats interpretiert, dabei versucht die konservative Regierung lediglich in einem mühsamen Prozeß, die „roten Flecken“ eines in anderen Ländern längst überwundenen Systems zu beseitigen.

Der Konflikt um den Aufbaufonds wurde zwar beigelegt, doch die linken EU-Abgeordneten versprachen sich von ihren Drohungen augenscheinlich einen „Schreckschuß“-Effekt. Als nämlich kurz vor Weihnachten der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski in einem Interview für die Tageszeitung Rzeczpospolita noch einmal nachdrücklich unterstrich, daß seine Regierung ihre Justizreform mit ungebremster Aktivität fortführen werde, war die Empörung enorm. Vermutlich auch deshalb, weil der stellvertretende Ministerpräsident hervorhob, daß in den westeuropäischen Ländern der politische Einfluß auf die Auswahl der Richter weitaus größer sei als in Polen.

In der Tat sind beispielsweise bei den Gerichten in Deutschland die Verfahren unübersichtlicher. Dies hat unter anderem der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert wiederholt harsch kritisiert. In der Bundesrepublik werden Richter von Vertretern aus Regierungen, Parlamenten und „Rechtsexperten“ gewählt, wobei auch die letzteren nur selten ihren Parteiausweis in der Schreibtischschublade verschwinden lassen.

Wie auch immer: Die in der EU regsam diskutierte Reform des polnischen Gerichtswesens hält jedenfalls sämtliche demokratischen Standards ein, wobei es nicht nur um Vergleiche mit Deutschland geht. Es ist eben kein schmerzloser Prozeß, wenn in Polen erst jetzt Veränderungen durchgeführt werden, die eigentlich schon 1989 angebracht gewesen wären. Diese wurden indes bis 2015 von fast allen Regierungen blockiert.

Die politische Transformation in den Ostblockländern, die in den hiesigen Zeitungen bisweilen als eine „samtene Revolution“ dargestellt wird, diente in Polen der partiellen Machterhaltung ausgedienter Kommunisten. Im Bewußtsein der Fragilität ihrer Situation waren sie zu einigen Zugeständnissen bereit, wollten jedoch ihre Zügel nicht aus den Händen lassen.

Der neue alte Innenminister Czeslaw Kiszczak, ein „roter“ General der übelsten Sorte, der zuvor unter anderem für den Schießbefehl zur Niederschlagung eines Bergarbeiterstreiks verantwortlich war, hatte nun uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Akten aus der Volksrepublik. Zum ersten Staatspräsidenten der Dritten Republik wurde im Dezember 1989 obendrein Wojciech Jaruzelski gewählt, jener Mann also, der einige Jahre zuvor den Kriegszustand ausgerufen hatte.

Die Kommunisten haben sich jedoch nicht nur hinübergerettet, sondern konnten über Jahre hinweg im freien Polen mitregieren, sei es im Parlament, Militär, in der Wirtschaft, Justiz oder den Medien. Als 1992 Premier Jan Olszewski als erster den Versuch unternahm, das Land vom postkommunistischen Erzübel zu befreien, wurde seine Regierung vom damaligen Staatspräsidenten Lech Walesa in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gestürzt. Im Jahr 1995 wurde Aleksander Kwasniewski zum Staatschef gewählt, der den Grundstein seiner Karriere in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) legte. Ob seiner Biographie hatte er selbstredend keine Schwierigkeiten damit, über seinen früheren Genossen die nötigen Schutzschirme zu öffnen.

Die notwendigen Reformversuche, die dann erst wieder der 2005 gewählte Präsident Lech Kaczynski anstieß, trafen auf hartnäckigen Widerstand linker „Wendegewinner“, die von der „friedlichen Revolution“ profitiert haben. Dies hatte zur Folge, daß bis heute in den polnischen Gerichten teilweise noch Personen sitzen, die bereits 1981 im Kriegsrecht Urteile gegen Oppositionelle gefällt haben. Und es sind oft dieselben älteren Richter, die heute dem EuGH zutragen, in Polen gebe es keine „Demokratie“ mehr.

Nur wenn man sich diese Zusammenhänge vergegenwärtigt, kann man begreifen, wie erforderlich die von der PiS angestrebten Maßnahmen sind. Die mit vielen Hindernissen behaftete Justizreform wird in der EU als Hinrichtung des Rechtsstaats interpretiert, dabei versucht die konservative Regierung lediglich in einem mühsamen Prozeß, die „roten Flecken“ eines in anderen Ländern längst überwundenen Systems zu beseitigen. Die Reformen werden jedenfalls von den meisten Polen befürwortet. Beurteilen kann die pathologische Situation an polnischen Gerichten nämlich nur jemand, der selbst einmal mit ihnen in Berührung gekommen ist.

Ähnliches betrifft die Medien. Brüssel und Berlin werfen der PiS seit Jahren vor, die Medien zu einem eigenen Propagandaapparat umgebaut zu haben. Auch in diesem Kontext würde vermutlich ein Vergleich mit der Bundesrepublik ausreichen, um sämtliche Zweifel an der Situation der öffentlich-rechtlichen Medien in Polen auszuräumen. Bleiben wir jedoch an der Weichsel: Die polnische Presselandschaft liegt bis zu 80 Prozent in den Händen ausländischer Investoren. Ein derart hoher Anteil wäre in den deutschen Medien undenkbar. In Frankreich liegt die zulässige Grenze ausländischen Kapitals ebenfalls bei 30 Prozent. Unterdessen gibt der zur Verlagsgruppe Passau gehörende Medienkonzern Polska Press heute in 15 Woiwodschaften etwa 20 Tageszeitungen und 100 regionale Wochenzeitschriften heraus. Wie kann man da behaupten, die PiS würde den gesamten medialen Raum in Polen für sich allein beanspruchen?

Im Gegenteil: Es gibt wenige Länder in Europa, in denen sich regierungskritische Medien ungestraft so viel erdreisten dürfen wie in Polen. Es ist jedenfalls zu bezweifeln, daß zum Beispiel Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sich jene Beleidigungen gefallen ließe, die sich seit den 1990er Jahren mitunter auf die Kaczynski-Brüder ergossen. Erst jetzt wird schleppend versucht, geordnete Verhältnisse herzustellen.

In diesem Licht wird auch verständlich, warum sich die Gemüter in Brüssel erhitzen. Die Kritik zielt ja nicht nur auf die polnische Justizreform ab. Jede Gelegenheit wird als Schlachtfeld genutzt, um einen medialen Krieg gegen die Konservativen aus Warschau loszutreten. So versucht uns die deutsche Polen-Berichterstattung seit einiger Zeit zu überzeugen, daß bei uns die Frauenrechte mit Füßen getreten werden. Ist das so? Nach den Angaben der Statistikbehörde Eurostat arbeiten in Polen mehr Frauen als in allen südlichen EU-Staaten. Jenseits der Oder gibt es auch vergleichsweise mehr weibliche Führungskräfte. Die höchste Zahl von gewalttätigen Sexualdelikten verzeichnet wiederum Großbritannien, gefolgt von Deutschland und Frankreich. Polen ist in diesem unrühmlichen Ranking ganz weit hinten, und es ist fast schon erheiternd, daß ausgerechnet einige dieser Länder diesbezüglich zu einer „zivilisatorischen Mission“ im Osten Europas aufrufen.

Bereits bevor Hitler und Stalin Polen überfielen, hatte Polen einen höchst modernen Umgang mit Frauenrechten gepflegt, während sie im Westen noch bloße Makulatur blieben. Wegen der spezifischen politischen Situation mußten sich polnische Frauen einfach früher emanzipieren, aber in Deutschland werden die Zeitungen kaum darüber berichten, weil dieses Thema nicht zum „guten Ton“ paßt.

Mit den Artikeln über die vermeintliche Homophobie der Polen ist ebenfalls kaum mehr als die Oberfläche des Problems angekratzt. Die Schwulen und Lesben im Westen hatten einen Grund, sich zu wehren: Sie kämpften für eine Depönalisierung der Homosexualität. Bis tief hinein ins 20. Jahrhundert standen dort gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe. In den USA konnte man dafür noch bis 2003 strafrechtlich belangt werden, in der Bundesrepublik wurde der letzte für seine Orientierung verurteilte Homosexuelle erst im Jahr 2000 aus dem Gefängnis entlassen. In Großbritannien warteten LGBT-Anhänger auf erste Gesetzeslockerungen bis Ende der 1970er Jahre.

In Polen hingegen wurden Homosexuelle seit der Zwischenkriegszeit nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Dies war in Europa lange ein singulärer Ausnahmefall. In der polnischen Geschichte findet man keine spektakulären Fälle von Verfolgungen Homosexueller. Es gab in Polen keine Schauprozesse gegen prominente Schwule wie in Großbritannien gegen Oscar Wilde oder wie im wilhelminischen Kaiserreich gegen Philipp zu Eulenburg. Polnische Dichter wurden nicht ins Gefängnis gesteckt, wenn sie sich Liebesbriefe schrieben wie etwa die Franzosen Paul Verlaine und Arthur Rimbaud.

Sexuelle Minderheiten konnten sich in Polen nicht gegen eine Kriminalisierung ihrer Ansichten erheben, weil sie nicht verfolgt wurden. Ausgenommen sind die von Moskau aus gesteuerten Kommunisten, die in den 1980er Jahren im Rahmen der Aktion „Hiacynt“ prominente Homosexuelle zu diffamieren suchten. Und es ist wahrlich eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet die Nachfahren dieser polnischen Marxisten heute mit regenbogenfarbenen Fahnen herumwedeln. Kurzum: „LGBT-freie Zonen“ sind eine Projektion der Linken, die ihnen wieder zu einigen Plätzen auf den Regierungsbänken verhelfen soll.

In Polen wurden Homosexuelle seit der Zwischenkriegszeit nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Dies war in Europa lange ein singulärer Ausnahmefall. In der polnischen Geschichte findet man keine spektakulären Fälle von Verfolgungen Homosexueller.

Ein anderes Argument der PiS-Kritiker: Die polnische Regierung möchte die Abtreibung verbieten. Die konservative Regierungspartei PiS setzt sich in der Tat seit geraumer Zeit für ein Abtreibungsrecht ein, das den willkürlichen Schwangerschaftsabbruch verbietet. Doch er ist keineswegs mit einem „totalen Abtreibungsverbot“ gleichzusetzen, wie es in den hiesigen Medien dargestellt wird. Der induzierte Abort ist in Polen nach wie vor zugelassen, sofern sich die Schwangerschaft negativ auf die Gesundheit der Mutter auswirkt oder etwa das ungeborene Kind aus einer Handlung hervorgeht, die als kriminell einzustufen ist. Die Liste der Ausnahmeregelungen wird letztlich überaus lang ausfallen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sicherte zudem jüngst seinen Landsfrauen einen breiteren Zugang zu pränataldiagnostischen Verfahren zu, und zwar in einem Umfang, wie es die linksliberalen Vorgängerregierungen nie getan haben. Wenn folglich im Westen beteuert wird, die Polinnen würden alsbald das „frauenfeindliche“ PiS-Kabinett stürzen, dann ist das schlichtweg falsch.

Die Bilder von den Demonstrationen, die wir zuletzt auf den polnischen Straßen sahen, sind nur einige Puzzlestücke einer großen Gesellschaft, wobei über die anderen in Deutschland kaum geschrieben wird. Die „friedlichen“ Frauenproteste wären wohl kein Problem, wenn sie nicht mit einem ungezügelten Antiklerikalismus einhergehen würden. Auch darüber wird in den meisten westlichen Beiträgen geflissentlich geschwiegen. Jedenfalls zeigten sich viele polnische Gläubige entsetzt über die plötzlichen Haßdelikte gegen Priester und christliche Symbole. Kirchen und Pfarrämter werden großflächig mit politischen Parolen besprüht, Gottesdienste von fanatischen Jugendlichen gestört. Teilweise werden gar Denkmäler von Johannes Paul II. beschmiert, dem polnischen Papst, der letztlich – auch den Linksradikalen – die Meinungsfreiheit in Polen ermöglichte. Eines steht jedenfalls fest: Jene Polen, die sich gegen ein solch barbarisches Verhalten erheben, sind kein europäisches „Urvolk“, das Unterricht in Toleranz benötigte. 






Dr. Wojciech Osinski, Jahrgang 1979, ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks sowie Redakteur des traditionsreichen Wirtschaftsmagazins Gazeta Bankowa.

Foto: Justitia richtet unparteiisch, selbstverständlich auch in Polen: Vor allem Postkommunisten aller Schattierungen tragen nach Brüssel die Mär, in Polen würden Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verletzt