© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Betrunkene Lakaien ziehen durchs Schloß
Seit 1945 streiten deutsche Historiker um die Deutung des Kaiserreichs / Neuester Disput zwischen Eckart Conze und Hedwig Richter
Karlheinz Weißmann

Es wäre wohl verfrüht, von einem neuen Historikerstreit zu sprechen. Aber unzweifelhaft hat das Reichsgründungsjubiläum zu einer Reihe von geschichtspolitischen Kontroversen geführt, die sich im wesentlichen auf eine Frage konzentrieren: Sollte das Kaiserreich eine positive Bezugsgröße der deutschen Vergangenheit sein?

Geht man nach der offiziösen Lesart, lautet die Antwort „Nein“. Der Bundespräsident hat schon seine Rede am 9. November 2018 zum Anlaß genommen, die Novemberrevolution als Anknüpfungspunkt deutscher Identität zu verankern und das Kaiserreich in einem möglichst trüben Licht erscheinen zu lassen. Seitdem versäumt er keine Gelegenheit, die scharfe Entgegensetzung von „Schwarz-Weiß-Rot“ und „Schwarz-Rot-Gold“ voranzutreiben. Zuletzt gestand Steinmeier zwar wenigstens die „Doppelgesichtigkeit“ des Kaiserreichs zu – reaktionäre Sozialstruktur einerseits, technische Inovation andererseits –, um aber doch den Akzent darauf zu legen, daß man Hitlers Machtübernahme nicht verstehen könne ohne Hinweis auf die „Vorbelastungen in Gestalt von Militarismus, nationaler Überheblichkeit, Antiparlamentarismus und Antisemitismus, für die Wurzeln auch im Kaiserreich gelegen haben“.

Das ist eine Auffassung, die sich in den tonangebenden Kreisen seit längerem durchgesetzt hat. Allerdings gegen erhebliche Widerstände. Denn in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch verantwortungsvolle Teile der westdeutschen Kultureliten, die vor den fatalen Folgen einer solchen „Verbösung“ der gesamten Nationalgeschichte warnten. Sie waren überzeugt, daß eine Fortsetzung jenes Umerziehungsprogramms verhindert werden müsse, mit dem die Sieger versucht hatten, nicht nur das NS-Regime, sondern gleich die ganze deutsche Vergangenheit als Manifestation zerstörerischer Kräfte zu präsentieren. 

Fritz Fischer skizzierte ein düsteres Kaiserreich 

In einem Leitartikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb 1950 der einflußreiche Journalist Paul Sethe, das deutsche Volk sei in der Stunde des Zusammenbruchs durchaus zur „Selbstbesinnung“ bereit gewesen: „Aber die Aufgabe wurde verdorben durch die eilfertigen Geister, die hämisch und ehrfurchtslos alles zu zerstören suchten, was in den letzten zweihundert Jahren sich aufgerichtet hatte an bleibender Erinnerung.“ Und weiter: „Der Aufstand der Kammerdiener begann. Es war, wie wenn betrunkene Lakaien abends durch die Räume eines Schlosses zögen, da sie den Herrn abwesend wußten, und als wenn sie nun die Ahnenbilder von den Wänden rissen und zerfetzten.“

In dem Bemühen um ein gerechtes Urteil über die deutsche Geschichte haben Historiker wie Gerhard Ritter vor allem versucht klarzustellen, welcher Abstand zwischen Bismarck als einer „Kämpfernatur größten Stils“ und Hitler als einem verantwortungslosen „Abenteurer“ und „Phantasten“ und mithin zwischen dem Kaiserreich und dem NS-Regime bestand. Eine Sicht der Dinge, die lange als konsensfähig galt, gestützt auch durch das Kollektivgedächtnis der Deutschen, für das die Zeit vor 1914 die „gute alte Zeit“ war. Eine Auffassung, die zuerst im akademischen Milieu in Frage gestellt wurde. Auslöser war ein Buch des Historikers Fritz Fischer, das 1961 unter dem Titel „Der Griff nach der Weltmacht“ erschien und die sogenannte „Fischer-Kontroverse“ auslöste. Fischer zeichnete nicht nur eine düstere Skizze des Wilhelminismus, sondern vertrat auch die Ansicht, daß die alte These der Entente von der deutschen „Alleinschuld“ am Ersten Weltkrieg zutreffe. Beherrschenden Einfluß gewannen solche Vorstellungen allerdings erst mit dem Generationenwechsel an den Universitäten und dem Siegeszug der linken Kulturrevolution. Wobei der Prozeß dadurch gefördert wurde, daß die negative Wertung des Kaiserreichs mit der These vom deutschen „Sonderweg“ kompatibel war, die es erlaubte, den Aufstieg des „deutschen Faschismus“ durch eine besondere deutsche Rückständigkeit – Stichwort: „verspätete Nation“ – zu erklären.

Der Erfolg des Buches „Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918“ (1973) von Hans-Ulrich Wehler kann insofern als symptomatisch betrachtet werden. Denn es war geeignet, allen progressiv Gestimmten den Gedanken einzuimpfen, die deutsche Geschichte sei mehr oder weniger zwangsläufig auf Auschwitz zugelaufen. Es gab zwar Bemühungen, diesen Ansatz zu korrigieren; genannt seien Michael Stürmers Monographie „Das ruhelose Reich“ (1983) und die beiden Bände über das Kaiserreich von Wolfgang J. Mommsen, die im Rahmen der Propyläen Geschichte Deutschlands (1992/93) erschienen. Aber auch da blieb der Eindruck vorherrschend, die Schöpfung Bismarcks sei aufgrund ihrer Konstruktionsfehler und inneren Widersprüche von Beginn an zum Untergang verurteilt gewesen.

Die schärfste, wenn auch im Ton moderate Kritik an diesen Sichtweisen übte Thomas Nipperdey mit der Veröffentlichung seiner großen, zweibändigen Darstellung „Deutsche Geschichte 1866–1918“ (1990/92). Nipperdey erteilte nicht nur der Annahme des „Sonderwegs“ eine Absage, sondern äußerte auch, daß „die Betrachtung der Kaiserzeit nur als Vorgeschichte von Nationalsozialismus und Hitler bei allen nun obsolet geworden“ sein müßte. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Was um so erstaunlicher wirkt, als seit den 1990er Jahren eine große Zahl von Untersuchungen erschienen ist, die nicht nur die „Normalität“ des Bismarckreichs im Rahmen des europäischen Staatensystems hervorheben, sondern auch dessen Qualitäten neu entdeckten. Besonders nachhaltig wirkten dabei die Bücher des australischen Historikers Christopher Clark, die als förmliche Rehabilitation Preußens und sogar des letzten deutschen Kaisers gelesen werden konnten.

Flächendeckende linke Politisierung der Disziplin

Indes blieb der Einfluß dieser Neubewertung gering. Eine Ursache dafür ist der Niveauverlust der deutschen Geschichtswissenschaft, eine andere – wichtigere – die Kräfteverteilung, die im Gefolge des sogenannten „Historikerstreits“ dazu führte, daß die linke Politisierung der Disziplin mitsamt ihrem Umfeld fast flächendeckend abgeschlossen werden konnte. Angesichts dessen war mit Opposition gegen die fortgesetzte Präsentation des Kaiserreichs als Zerrbild kaum noch zu rechnen, und der Beifall – nicht zuletzt der offiziöse –, mit dem zuletzt Eckart Conzes Buch „Schatten des Kaiserreichs“ (2020) aufgenommen wurde, konnte man als Bestätigung pessimistischer Einschätzungen betrachten.

Um so überraschender, daß sich neuerdings Historiker zu Wort melden, die diese Bezeichnung verdienen und Nipperdeys „Ideal“ folgen, nämlich jeder Zeit „ihren eigenen Wert und Sinn“ zuzugestehen. Besonderes Interesse verdienen in dem Zusammenhang Rainer F. Schmidt, der mit einem Aufsatz in der renommierten Historischen Zeitschrift noch einmal die Frage nach den Kriegsursachen von 1914 aufgeworfen hat, sowie Hedwig Richter, die schon mehrfach durch unorthodoxe Auffassungen hervorgetreten ist und für den kommenden März einen Band unter dem Titel „Aufbruch in die Moderne“ über das Kaiserreich ankündigt. Was besonders erstaunt, ist, daß die Münchner Professorin die von Conze gegen sie gerichteten Invektiven – sie treibe „Revisionismus“ und liefere dem „Neonationalismus“ Argumente – mit großer Gelassenheit quittiert. 

Das spricht nicht nur für Charakterstärke, sondern auch dafür, daß sie sich ihrer Sache sicher ist. Und vielleicht darf man noch etwas mehr hoffen, nämlich, daß sie am selbstgerechten „Tugendgebrüll“ der Heutigen Anstoß nimmt, die die Gegenwart zur besten denkbaren Welt erklären und die Vergangenheit zum Abgrund von Dummheit und Schlechtigkeit. Der Begriff stammt übrigens von Thomas Mann, der das „Tugendgebrüll“ als besonders unerfreulichen Teil wilhelminischer Mentalität betrachtete.