© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Alles hängt doch mit allem zusammen
Der Philosoph und Unternehmer Albrecht von Müller legt einen großen Entwurf von der modernen Physik bis zur Europapolitik vor
Felix Dirsch

Angesichts des Grades an Komplexität, den viele Probleme in Wirtschaft, Politik, Kultur und Technik längst erreicht haben, verwundert es nicht, daß weltweit größere Steuerungsprobleme auftreten werden. Der Philosoph Albrecht von Müller wurde um 2000 als Unternehmer an der Börse reich. Seither widmet sich der Leiter des Parmenides Center for the Study of Thinking vornehmlich dem Nachdenken über Auswege aus der menschlichen Handlungsunfähigkeit, die sich in vielen globalen Krisen zeigt.

Das Thema erscheint zu schwierig, um es zwischen zwei Buchdeckeln zu erörtern. Von Müller geht die Problematik dennoch an und liefert, so viel ist vorwegzunehmen, diskussionswürdige Konzepte. Ob sie umgesetzt werden können, ist eine andere Frage. Die menschliche Selbstgefährdungsspirale und entsprechende Möglichkeiten, aus ihr zu entrinnen, werden schließlich schon seit Jahrzehnten eifrig debattiert. Man gewinnt den Eindruck, die Schwierigkeiten auf der weltpolitischen Ebene, etwa im ökologischen Bereich, haben sich trotz einer Flut an problemlösungsorientierten Traktaten eher vergrößert.

Von Müller nähert sich über einen neuen Zeit- und damit eng verbunden Wirklichkeitsbegriff einem veränderten, adäquaten Verständnis von Komplexität. Er spricht sogar von einer „Theory of Everything“. Das Forschungsgebiet „Cognostics“ soll wichtige Grundlagen für das neue Modell erarbeiten.

Unterschiede innerhalb der EU stärker berücksichtigen 

Ein wesentliches Ziel der Arbeit ist es, Konzepte vorzustellen, die den klassisch-kategorialen Apparat erweitern. Darunter versteht von Müller interdependente Komponenten wie die zweiwertige Boolesche Logik, den linear-sequentiellen Aspekt der Zeit, die Subjekt-Objekt-Dichotomie und das Prinzip der kausalen Geschlossenheit. Spätestens seit den epochalen Neuerungen der Physik in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts (Quanten- und Relativitätstheorie) gelten solche althergebrachten Beschreibungen der Realität als überholt, bestimmen in ihren Implikationen aber immer noch den Alltag der Menschen.

Entsprechend dem Grundsatz Carl Friedrich von Weizsäckers, Vernunft sei die Fähigkeit, ein Ganzes als Ganzes wahrzunehmen, erörtert der Autor zentrale Gesichtspunkte zum Verständnis und zur Genese unseres Universums. Sein Ziel ist es, nicht nur die Wirklichkeit wahrzunehmen, wie wir sie vorfinden; vielmehr will er in Form eines „Statu nascendi“-Portraits deren Entstehen beschreiben. Es geht ihm ferner auch darum, Fakten nicht allein als Fakten zu verarbeiten, sondern ihre konstellative Selbstentfaltung zu begreifen. Eine ausschließliche Perzeption vorhandener Tatsachen führt Müller zufolge lediglich zu einem „Facticity Imprisonment“.

Von der Konzeption eines autogenetischen Universums schlägt er einen großangelegten Bogen zu den Entitäten von Materie, Leben, Bewußtsein und dem Verlauf der modernen Zivilisation, die sich in Form stufenförmiger Prozesse entwickeln. Die Fülle an Detailaspekten, die er in diesem Rahmen berücksichtigt, besticht. So ordnet er dem Kontext seines reicheren Zeit- und Wirklichkeitsbegriffes stark umkämpften Forschungsfeldern wie der Evolutionstheorie und der Neurobiologie zu.

Von Müller beläßt es nicht bei theoretischen Analysen basaler Kategorien unserer Wahrnehmung; er argumentiert durchaus anwendungsbezogen. Nachdem Menschenwürde den zentralen Wert darstellt, der jedoch schwer unmittelbar aus dem entwicklungsgeschichtlichen Universum abzuleiten ist, kann die Fokussierung auf den Anwendungsbereich Europa kaum erstaunen. Der Autor legt ein subsidiäres Programm vor, das die Unterschiede innerhalb der EU stärker berücksichtigen will. Europa soll als Katalysator einer „partizipatorischen Weltinnenpolitik“ wirken. Derartige Ideen sind alles andere als neu. Allerdings dürften sie in absehbarer Zeit kaum umzusetzen sein, findet sich doch außerhalb unseres Kontinents dafür eher weniger Resonanz. 

Die Studie ist keinesfalls leichte Kost. Allein diverse Diagramme zur Verdeutlichung des Textes erfordern aufmerksames Lesen. Wenn der gelernte Philosoph, der Vorläufer seiner Disziplin wie Kant, Hegel, Heidegger und Gotthard Günther kongenial verarbeitet, eine solche Synopse vorlegt, ist das verdienstvoll. Ob der „alte Adam“ jedoch – faktisch stark bestimmt von den verpönten Kategorien Macht, Besitz und Kontrolle – diese Handlungsantriebe auch nur partiell revidiert, ist zu bezweifeln.

Albrecht von Müller: Die Selbstentfaltung der Welt. Eine Einladung, Zeit und Wirklichkeit neu zu denken und mit Komplexität anders umzugehen. Siedler Verlag, München 2020, gebunden, 510 Seiten, 26 Euro