© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

„Kritik kommt nach der Krise“
Ein Jahr Corona: Wie lange dauert die Krise noch? Wann endet der Lockdown? Entscheidet Covid-19 die Bundestagswahl? Einschätzungen liefert Hermann Binkert, Leiter von INSA, einem der großen Meinungsforschungsinstitute Deutschlands.
Moritz Schwarz

Herr Binkert, gibt es Hinweise darauf, wie lange die Bürger die zweite große Corona-Schließungswelle noch hinnehmen?

Hermann Binkert: Meinungsforscher sind keine Hellseher, auch wir können die Zukunft nicht voraussehen. Aber wir stellen fest, daß einzelne Corona-Maßnahmen unterschiedliche Akzeptanz genießen: Etwa ist die bei der bisherigen Maskenpflicht groß, bezüglich einer Pflicht zu FFP2- beziehungsweise OP-Masken eher gespalten.  

Konkret?

Binkert: Auch eine FFP2/OP-Maskenpflicht findet noch eine Mehrheit, aber nur noch knapp. Anderes Beispiel: Es gibt eine hohe Akzeptanz für die Maskenpflicht im Öffentlichen Nahverkehr, aber eine Ablehnung für die im Schulunterricht. Man kann also nicht vorhersagen, ob oder gar wann sich Zustimmungswerte ändern, wohl aber feststellen, daß Zustimmung im ganzen nicht bedeutet, daß jedes Element begrüßt wird. Ähnlich ist es beim Impfen, wo die Mehrheit zwar Impfbereitschaft bejaht, Impfpflicht aber ablehnt.  

Die Impfbereitschaft fiel von anfänglich 79 Prozent auf 50 Prozent im Dezember. Kaum vier Wochen später liegt sie nun wieder bei 67 Prozent. Wie ist so eine „Achterbahnfahrt“ zu erklären?

Binkert: Es liegt möglicherweise daran, wie gefragt wird. Heißt es zum Beispiel statt „Sind sie bereit, sich impfen zu lassen?“, „Sind sie bereit, sich jetzt impfen zu lassen?“, kann das Ergebnis ganz anders ausfallen. Ebenso wenn Berufsgruppen einzeln befragt werden oder wenn eine Lockerung von Lockdown-Auflagen für Impfwillige in Aussicht gestellt wird.

Warum aber ist die Zustimmung zur Corona-Politik der Regierung trotz offensichtlicher Planlosigkeiten, ständigen Versäumnissen und Widersprüchen so groß?

Binkert: In Krisen sammelt sich das Volk häufig hinter der Regierung. Die Zeit der Kritik kommt erfahrungsgemäß eher, wenn die Krise überstanden ist.

Aber in vielen Medien ist inzwischen harsche Kritik zu lesen: „Impf-Chaos“, „Corona-Fiasko“, „Regierung hat den Sommer verschlafen!“ lauten etliche Schlagzeilen. 

Binkert: Die meisten Bürger sind bei aller Kritik einfach froh, daß überhaupt jemand da ist, der sich um das Problem zu kümmern scheint. Zudem stellen wir immer wieder fest, daß die veröffentlichte Meinung großen Einfluß auf das Stimmungsbild der Bevölkerung hat. Inzwischen kann man aber beobachten, daß die Corona-Politik von den Medien in der Tat kritischer, zumindest aber differenzierter betrachtet wird als vor einem Jahr.

Die Corona-Schließungspolitik trifft die Medien kaum, viele Bürger bedroht sie dagegen existentiell – Arbeitslosigkeit, Schulden, Wohnungsverlust. Das macht unverständlich, warum die Regierung nicht wenigstens um eine Mehrheit für ihre Politik kämpfen muß. Stattdessen wollen ja sogar 28 Prozent der befragten Bürger noch härtere Maßnahmen – im Herbst forderten das sogar zeitweilig 49 Prozent.

Binkert: Ursache ist die Angst: Solange die Leute um ihre Gesundheit und sogar das Leben fürchten, werden harte Maßnahmen Akzeptanz finden. Seit fast einem Jahr ist die Gesundheit, ist Corona das mit Abstand wichtigste Thema. Und solange haben wir auch diesbezüglich eine gespaltene Gesellschaft: Die einen fürchten sich stärker vor den Bedrohungen der Pandemie für Gesundheit und Leben, die anderen vor den Grundrechtseinschränkungen. Und jene, die die Regierungspolitik befürworten, können sich oft gar nicht vorstellen, daß diese auch etliche Kritiker hat – während die nicht glauben können, daß so viele hinter dieser stehen. Ursache ist, daß viele in ihrer jeweiligen Blase sitzen. Otto von Bismarck hat einen Satz geprägt, den ich uneingeschränkt teile: „Verfallen wir nicht in den Fehler, bei jedem Andersmeinenden entweder an seinem Verständnis oder an seinem guten Willen zu zweifeln!“ Wir hätten eine andere Debattenkultur, wenn alle das so sähen.

Vertieft Corona auch unsere zuvor schon diagnostizierte West-Ost-Spaltung?

Binkert: Corona spaltet in mehrfacher Hinsicht, in der Tat auch entlang der sogenannten alten und neuen Bundesländer, aber vielmehr noch zwischen Alt und Jung, insbesondere zwischen denen unter und denen über sechzig Jahren.

Holland hat gerade schwere Ausschreitungen Jugendlicher gegen die Verschärfung der Corona-Auflagen erlebt. Auch in Deutschland gab es schon Randale, beziehungsweise war die Corona-Maßnahmendisziplin der Jüngeren zumindest zeitweise deutlich geringer als bei den Älteren. Wie kommt das eigentlich, schließlich lautete zuvor, in der Klimadebatte, noch der Vorwurf der Jüngeren, die Erwachsenen seien amoralischerweise nicht bereit, sich für das Allgemeinwohl einzuschränken? 

Binkert: Da sind wir wieder bei der Angst: die ist bei Älteren, die ja zur Risikogruppe gehören, größer. Zudem sind Ältere vom Lockdown, zumindest praktisch, häufig nicht so stark betroffen wie Jüngere – im Blick auf Arbeitslosigkeit, Homeoffice mit Kindern etc.  

Das leuchtet ein – nicht jedoch, daß sich Jugendliche nun genauso verhalten, wie sie es ihren Eltern vor kurzem noch empört vorgeworfen haben. Das ist inkonsistent. 

Binkert: Ich würde davor warnen, beide Themen, also Corona und Klima, zusammenzuspannen.  

Warum? Drängen sich die Parallelen nicht auf: Beide Male soll eine Gruppe im Namen eines Allgemeinwohls ihren Lebensstil besonders einschränken. Nun sind es aber nicht, wie beim Klima, vor allem die Erwachsenen. Doch prompt zeigten die Jungen jene Unwilligkeit dazu, die sie beim Klima zuvor ihren Eltern vorgeworfen haben. Denn, so zeigen die Daten, in den warmen Monaten haben vor allem die unter Dreißigjährigen das Virus durch Weitergabe über den Sommer „gerettet“.  

Binkert: Junge sehen Corona zwar durchaus als große Gefahr an – aber eben nicht für sich selbst. Ich warne aber deshalb davor, die Themen zu koppeln, weil ja versucht wird, aus den Corona-Maßnahmen zu folgern, künftig erst recht solche für das Klima zu ergreifen – den Ausnahmezustand also zum Normalzustand zu machen. Anders als bei Corona geht es bei der Klimadebatte meines Erachtens nicht zwangsläufig um Grundrechts­einschränkungen, sondern um andere Arten des Wirtschaftens und Lebens. Im übrigen warne ich vor Begriffen wie „die Jugend“ oder „die Erwachsenen“, denn man kann nicht einer gesamten Altersgruppe pauschal eine Position zuordnen.    

Am 14. März beginnt das Superwahljahr mit den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Werden die sechs Landtagswahlen 2021 und die Bundestagswahl vom Thema Corona entschieden? 

Binkert: Auch hier gilt, Meinungsforscher sind keine Hellseher. Niemand weiß, wie die Lage dann sein wird. Gerade Corona hat gezeigt, wie schnell ein dominierendes Thema auftreten kann und welche Meinungsumschwünge in kurzer Zeit möglich sind. Es gibt auf jeden Fall weitere Aspekte, die für die Bundestagswahl mitentscheidend sein werden. So tritt etwa – natürlich mit Ausnahme der ersten Bundestagswahl 1949 – zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik kein amtierender Bundeskanzler zur Wahl an. Es wird also eine ganz neue Ausgangslage geben. Dazu gehört auch, daß wohl erstmals seit der Reichstagswahl von 1890 die Stellung der SPD, als stärkste oder zweitstärkste Kraft aus einer freien und demokratischen Wahl auf nationaler Ebene hervorzugehen, gefährdet ist. Sie könnte von den Grünen überholt werden. Wer meint, es hinge alles nur an Corona, wird wohl falschliegen.   

Über die AfD heißt es, sie profitiere vom Thema Corona nicht. Aber stimmt das? Schließlich gilt sie da doch als die einzige richtige Oppositionspartei.

Binkert: Nicht nur die AfD kritisiert die Corona-Politik der Bundesregierung. Und auch die Wähler der AfD sind bei diesem Thema gespalten, oft 50 zu 50. Andererseits, da haben Sie recht, spricht die Partei mit ihrer Corona-Kritik eine Stimmung in der Bevölkerung an. Die AfD ist mit ihren Meinungen und wie sie diese zum Ausdruck bringt im Parteienspektrum meist alleinstehend, was ihr inzwischen eine loyale Wählerbasis eingebracht hat. Dennoch, und das belegen nun einmal die Zahlen, hat sie im Vergleich zu ihrem Umfragewert vom Januar 2020 etwa ein Drittel ihres Zuspruchs eingebüßt: Statt bei 15 Prozent  liegt sie aktuell bei zehn Prozent.  

Liegt das aber wirklich an Corona?

Binkert: Alles nur auf Corona zu beziehen ist zu kurz gegriffen, wovor ich eben schon gewarnt habe. Natürlich spielen weitere Faktoren eine wichtige Rolle, etwa das inhaltliche Angebot einer Partei insgesamt, die Qualität ihres Personals, ihr öffentlicher Auftritt und – nicht zuletzt – auch ihre Geschlossenheit. Wenn die AfD Zustimmung verloren hat, liegt das sicher nicht ausschließlich am Thema Corona. Aber man kann bestimmt nicht sagen, daß sie davon profitiert hat, indem sie neuen Zuspruch erlangt – worauf Ihre Frage ja zielte. 

Welche Rolle spielt es, sollte es in dieser Woche zur Beobachtung der gesamten Partei durch den Verfassungsschutz kommen?

Binkert: Einige Wähler mag das in einer Art Wagenburgmentalität erst recht an die Partei binden, dennoch würde sie eher Wähler verlieren. 

Warum? Würde sie nicht vielleicht rechts hinzugewinnen, was sie „links“ verliert?

Binkert: Welche Partei gibt es bitte rechts von der AfD, die über eine relevante Zahl Wähler verfügt, die sie an sich ziehen könnte?  

Vielleicht Nichtwähler, die sich aus Protest gegen die Beobachtung mobilisieren lassen? 

Binkert: Es ist ein Irrtum zu glauben, die 25 bis 30 Prozent Nichtwähler bestünden nur aus Unzufriedenen, die man durch ein immer radikaleres Profil aktivieren könnte. Untersuchungen zeigen vielmehr, daß die Nichtwählerschaft ähnlich zusammengesetzt sind wie die übrige Wählerschaft: da gibt es ebenso Linke, Rechte, Liberale, natürlich auch Radikale, aber weit mehr Gemäßigte, Nichtwähler aus Frustration über die Politik, aber auch solche, die nicht zur Wahl gehen, gerade weil sie nicht frustriert, sondern mit den Verhältnissen zufrieden sind. Und dann gibt es einen harten Kern von etwa zehn Prozent der Wahlberechtigten, bei dem ich sicher bin, daß er sich niemals von einer Partei dazu bringen lassen wird, zur Wahl zu gehen, weil diesen Leuten das einfach egal ist. Die AfD hat ja bereits einen erheblichen Teil ihrer aktuellen Wähler aus der Klientel der Nichtwähler mobilisiert. Die Ränder bieten grundsätzlich wenig Potential.  

Mit welchem Verlust müßte die AfD also bei einer Beobachtung rechnen? 

Binkert: Bei unseren Erhebungen erfassen wir nicht nur, wen die Leute im Moment der Umfrage wählen würden, sondern auch, welche Partei zu wählen sie sich außerdem vorstellen können. Da fallen für die AfD regelmäßig vier bis fünf Prozent an. Und unter denen, die aktuell die AfD wählen würden, ist sich etwa jeder dritte nicht sehr sicher, daß er bis zur Wahl bei seiner Wahlabsicht bleibt. Bei einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist damit zu rechnen, daß etliche unsichere und potentielle Wähler verschreckt werden würden. Unsere Umfragen ergeben auch, daß die große Mehrheit der Wähler einer Partei, diese nicht für die Opposition wählt, sondern wünscht, daß sie mitgestaltet. Das gilt ausnahmslos für alle Parteien. Mit einer Verfassungsschutzbeobachtung jedoch ist jedwede Regierungsbeteiligung der AfD völlig ausgeschlossen. Eine Partei muß damit rechnen, daß sie das weitere Wähler kostet.

Corona hat auch verhindert, daß 2020 ein neuer CDU-Vorsitzender gewählt worden ist, der sich als Kanzlerkandidat profilieren konnte. Stattdessen hat die Krise Markus Söder zum Liebling der Union gemacht. Ist das Schicksal des neuen CDU-Chefs Armin Laschet also nicht besiegelt, der gegen den Bayern doch gar nicht mehr ankommt?   

Binkert: Zum drittenmal: Meinungsforscher sind keine Hellseher! Es mag ja sein, daß es so kommt, denn Söder ist nach der Kanzlerin derzeit der beliebteste Politiker Deutschlands. Dennoch halte ich das keineswegs für ausgemacht. Als interessierter politischer Beobachter würde ich sagen, das Rennen ist offen. Persönlich würde ich sogar tippen, daß Herr Söder nicht Kanzlerkandidat wird. 

Warum nicht?  

Binkert: Weil für Parteien nicht nur Umfragewerte zählen. Da gibt es vielfältige Interessen, die sich nicht einfach beiseite schieben lassen, und strategische Überlegungen. Ich wiederhole, daß ich nicht ausschließe, daß Söder das Rennen macht. Aber ich sehe eher Laschet, der im Laufe des Jahres vermutlich ganz andere Umfragewerte haben wird als heute, die Union in den Wahlkampf führen.






Hermann Binkert, ist Geschäftsführer des Markt- und Sozialforschungsinstituts INSA-Consulere, das er 2009 in Erfurt gegründet hat. Zuvor war der ehemalige CDU-Politiker, 2014 verließ er die Partei, persönlicher Referent der thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und Dieter Althaus, Staatssekretär in der Staatskanzlei sowie Bevollmächtigter des Landes Thüringen beim Bund und Leiter der Landesvertretung in Berlin. Geboren wurde der Jurist 1964 im badischen Waldshut-Tiengen. 

 www.insa-consulere.de

Foto: Die Deutschen, die Furcht und das Virus: „Seit fast einem Jahr (beherrscht uns) die Angst. Die einen fürchten sich vor der Pandemie, die anderen vor den Grundrechtseinschränkungen“

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