© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Heiße Tänze vor der Wahl
Rußland: Trotz oder gerade aufgrund der Drohungen aus dem Westen setzt der Kreml auf Härte gegen die Nawalny-Anhänger
Marc Zoellner

Folgender Beitrag ging den russischen Behörden viel zu weit: Eine „Einmischung in Moskaus innere Angelegenheiten“ hätte sich die US-Botschaft in Rußland erlaubt, die „zu einer entsprechenden Antwort führen“ würde, schimpfte das russische Außenministerium vergangenen Freitag auf dem sozialen Netzwerk Telegram. „Das alles paßt exakt zusammen mit Washingtons provokanten Richtlinien zum ‘Ermutigen von Protesten in Ländern mit unerwünschten Regierungen’.“

Tatsächlich hatte sich Washingtons Botschafter in Moskau auch nach diplomatischen Maßstäben ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, als dieser vergangene Woche eine Liste der Protest- und Demonstrationsorte der Anhänger des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny gegen dessen Verhaftung im speziellen sowie gegen Rußlands Präsidenten Wladimir Putin im allgemeinen veröffentlichte – und dies auf der offiziellen Netzseite der US-Botschaft in Moskau.Waren die Beziehungen beider Nationen zuvor bereits auf frostigem Niveau, dürfte sich die bilaterale Situation mit diesem Affront noch einmal gehörig weiter abkühlen. 

Die offene Unterstützung ausländischer Regierungen dürfte viele der zumeist jungen russischen Demonstranten in ihrer Entscheidung bestärkt haben, am vergangenen Wochenende für die Freilassung Alexei Nawalnys auf die Straße zu gehen. Von Wladiwostok am Pazifik bis nach St. Petersburg an der Ostsee hatten sich unzählige Menschen in mehr als 38 Städten quer über das Land zusammengefunden, um gegen die Verhaftung des einflußreichen Bloggers und Antikorruptionsaktivisten zu protestieren. 

Mitte Januar war Nawalny kurz nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Rußland von den Behörden verhaftet und wegen Verstoßes gegen Auflagen aus einem früheren Prozeß zu dreißig Tagen Haft verurteilt worden. In Deutschland hatte sich Nawalny vorab zur Behandlung eines mutmaßlichen Giftattentats aufgehalten, welches ihn im August 2020 während eines innerrussischen Fluges beinahe das Leben gekostet hätte.

Für seine Anhänger steht die Unschuld Nawalnys zweifelsfrei fest, weswegen allein an der Demonstration in Moskau am vergangenen Samstag bis zu 50.000 Bürger teilnahmen. „Das ist die wirklich größte Anti-Putin-Kundgebung seit Jahren“, berichtete der New York Times-Korrespondent Ivan Nechepurenko live vom Geschehen. „Die Leute sind richtig wütend.“ 

Offiziell zählte die Moskauer Polizei nur knapp 4.000 Demonstranten; die übertragenen Videos vom Massenprotest zeigten hingegen ein deutlich anderes Bild. Landesweit wurden während der Samstagsdemonstrationen, bei denen es am Rande auch zu Ausschreitungen zwischen Protestlern und Sicherheitskräften gekommen war, mindestens 3.600 Menschen verhaftet; davon allein in Moskau über 1.000 Bürger.

Weitere Demonstrationen stehen auf dem Plan 

„Wir helfen bei Berufungen auf Gerichtsentscheidungen und entschädigen Geldstrafen“, versprach eine Mitarbeiterin Nawalnys auf Twitter den Verhafteten, denen von seiten des Staates im Großteil der Fälle Verstöße gegen die russische Coronaschutzordnung vorgeworfen wurden.

Die Verhaftung Nawalnys erfolgte beinahe zeitgleich mit einer Veröffentlichung des Kremlkritikers auf dessen Blog über eine angebliche Luxusvilla, welche Wladimir Putin sich an der russischen Schwarzmeerküste errichten lassen habe.

Für Putin kam diese Veröffentlichung zu einem äußerst ungelegenen Zeitpunkt: Immerhin stehen im September dieses Jahres die nächsten Parlamentswahlen an. Zur vergangenen Wahl im Herbst 2016 hatte sich die Partei „Einiges Rußland“ des damaligen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew, die im Parlament stramm hinter dem Kurs Wladimir Putins steht, noch eine komfortable Mehrheit von über 54 Prozent der Stimmanteile sichern können. Doch mit der Anhebung des Renteneintrittsalters durch Medwedew im Juni 2018 sanken die Umfragewerte der Partei schlagartig. In einer diesen Januar publizierten Befragung kam „Einiges Rußland“ lediglich noch auf 28 Prozent.

Die derzeitigen Proteste auf den Straßen der russischen Metropolen dürften dem Putin-Widersacher Nawalny demzufolge nicht nur allein zu dessen Haftentlassung dienen, sondern ebenso als allgemeiner Stimmungstest der Oppositionsparteien in Vorbereitung auf die kommende Dumawahl. Vorsorglich rief der Kremlkritiker auf Twitter bereits zu weiteren Kundgebungen für den 31. Januar auf. Beteiligen sollten sich daran: „Alle Städte Rußlands. Für die Freiheit für alle.“