© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Ein viraler Tsunami
Atomisierung der Gesellschaft: Covid-19 könnte den Tod jeder Hochkultur im digitalen Nirwana beschleunigen
Dirk Glaser

Rudolf Alexander Treumann, im Ruhestand lebender Münchner Geophysiker, schaute schon während seiner aktiven Zeit gern nicht nur über den Zaun seines Faches, sondern ebenso neugierig über die von Charles Percy Snow vor sechzig Jahren markierte Grenze hinaus, die die „zwei Kulturen“ der Natur- und Geisteswissenschaften trennen soll. Nach zeitgeistigen Betrachtungen zur Klimapolitik und zum Anthropozän, zur Kosmologie und Kunsttheorie, tastet sich auch sein jüngster, der Corona-Pandemie gewidmeter Essay auf ihm ursprünglich fremdes Terrain vor (Lettre International, 131/2020).

Verhaltensweisen wandeln sich radikal

Obwohl es seitenlang zunächst nicht den Anschein hat, als wolle Treumann mehr als nur den naturwissenschaftlich versierten Chronisten eines sich „von der Pandemie zur Pandämonie“ entwickelnden „viralen Tsunami“ geben. Wird doch zunächst die in der Geschichte der Neuzeit singuläre Gefährlichkeit des Virus anhand von Mortalitätsraten aufgezeigt und sodann nüchtern abwägend die inzwischen entschiedene Frage erörtert, ob es erlaubt sei, die dritte Testphase für die Impfstoffzulassung ohne Rücksicht auf zu erwartende, womöglich letale Autoimmunreaktionen zu verkürzen. Um sich für die Inkaufnahme von Impfopfern zu entscheiden, die leichter zu ertragen wären als das – öffentlich kaum wahrgenommene – Millionenheer angeblich „Genesender“. Jener Covid-19-Patienten, die mit irreparablen Organschäden (Niere, Leber, Herz, Kreislauf, Hirn) für ihr Leben gezeichnet seien.

Treumann scheut in diesem Kontext auch vor makabren, aber gar nicht abwegigen Hochrechnungen zurück. Demnach scheinen die prognostizierten demographischen Auswirkungen der Pandemie mit 0,1 Prozent Todesopfern bis 2025, bei einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden Menschen, statistisch „nicht erschreckend“ – verglichen mit den 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges. Selbst wenn sich die Pandemie also in der Größenordnung von etwa sieben Millionen Toten pro Jahrfünft ungebremst fortsetzte, bräuchte es Jahrzehnte, bis durch das Virus die aktuell unerwünschte Bevölkerungsexplosion im globalen Süden gestoppt sei. Das Ende der Menschheit breche also nicht an.

Doch eine daraus ableitbare Strategie stoischer Gewöhnung ans Massensterben sei natürlich keine Option für eine technologisch hochgerüstete Zivilisation und ihr humanitäres Selbstverständnis. Alle Hoffnung ruhe daher auf dem Impfstoff. Bis zum Eintreten der Herdenimmunität heiße es „Durchhalten, strengste hygienische Disziplin üben“ und mit „Vernunft, Vernunft, Vernunft“ immer schön Abstand halten. 

Daß dann trotzdem nicht „alles wieder gut und wie früher“ werde, da ist sich Treumann sicher. Denn Covid-19 verschwinde nicht wieder, das Virus sei, so die einhellige Expertenmeinung, „gekommen, um zu bleiben“. Der radikale Wandel der gesellschaftlichen Verhaltensweisen gerade im Westen sei damit vorprogrammiert. Das zeichne sich gegenwärtig deutlich ab und ziehe am schwersten den „Kern der Kulturszene“ in Mitleidenschaft. Die erzwungene Distanzierung untergrabe das Verhalten des Kollektivwesens Mensch, das sich gemeinhin dort am wohlsten fühle, „wo was los ist“. Genau wie das Virus, wie sich Treumann von einem Graffito am Zürcher Hauptbahnhof belehren läßt: „Das Virus ist ein Großstädter, es ist da, wo was los ist.“ 

Soziale Netzwerle als postvirale Zensurbehörde

Darum ist jetzt in Opernhäusern, Konzertsälen, Theatern, Galerien und Museen nichts mehr los. Das führe dazu, daß sich die kulturelle Kommunikation nach den Spielregeln der Digitalisierung neu ordne. Die Masse der Kulturschaffenden, die von unmittelbaren Erträgen ihrer Produktion, vom zahlenden Publikum in Menge lebt, Schriftsteller, Maler, Musiker, Schauspieler, dürfte zu den Pandemie-Verlierern zählen. Viele würden die Karenzzeit finanziell nicht überstehen.

„Prominenz“ hingegen, hochkarätige Solisten, Bestsellerautoren oder Künstler, die das obere Preissegment bei Online-Versteigerungen erreichen, sind kaum betroffen, solange ökonomische Stabilität ein zahlungskräftiges Publikum garantiert. So brachen zwar im ersten Halbjahr 2020 etwa Galerien-Umsätze weltweit infolge Besucherbeschränkungen ein. Aber im Online-Handel legten sie um ein Drittel zu. Der Trend zum „Home Office“ und zu digitalem Unterricht in Schulen und Hochschulen lasse grüßen. Er bewege sich hin zu unpersönlicher, technisch vermittelter Interaktion.

Es setzt sich folglich auch außerhalb harter Lockdown-Phasen fort, was die Medientheorie der „Frankfurter Schule“ als das durch Funk, Film und Fernsehen bedingte „Verschwinden genuiner Öffentlichkeit“ registrierte. Das Bedürfnis nach Geselligkeit erfüllt sich für den Konsumenten der Massenmedien im Akt der Rezeption. Der öffentlich-räsonierende Austausch über das Angeeignete bleibt ihm erspart. Die modernen, vermeintlich „sozialen Medien“, die tatsächlich die Atomisierung von Gesellschaften forcieren, vertieften dieses Reflexions- und Artikulationsdefizit bereits vor Corona und könnten es unter dem Regime des Ausnahmezustands verstetigen. 

Für den Lettre-Autor Rudolf Alexander Treumann ist das ein realistisches Horrorszenario. In den Tentakeln „sozialer Netzwerke wartet der Tod auf die rudimentär noch unabhängige Kultur“. Covid-19 spiele ihnen den Ball zu. „Am Ende übernehmen sie ganz, stutzen die Kultur nach ihrem Diktat auf reine Unterhaltung, pseudokulturelles Blabla zurecht.“ Sie sind die, wenn auch noch so gut wie unbemerkt agierende „Zensurbehörde der nahenden postviralen Zukunft“.

Foto: Leere Stuhlreihen im Staatstheater am Gärtnerplatz in München (l.), im Aalto-Theater in Essen und im Konzertsaal des Dresdner Kulturpalasts: Viele Häuser werden bis Ende März beziehungsweise Ostern (4./5. April) geschlossen bleiben. Nach Angaben des deutschen Bühnenvereins gilt das bislang für die Staats- und Landestheater sowie viele kommunale Bühnen in Hessen, Berlin, Baden-Würtemberg, Sachsen und Thüringen. Es sei jedoch zu erwarten, daß sich weitere Bundesländer anschließen.