© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Wie ein Nickerchen im Schaukelstuhl
Protokoll eines Wahns: „Aus der Zuckerfabrik“ von Dorothee Elmiger will Kolonialpolitik nachspüren, ist aber nur ein wirres Sammelsurium
Dietmar Mehrens

Die plausibelste Erklärung für dieses Buch ist wohl die: Irgendwann hatte die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger eine vage Idee für ein neues Buch. Es sollte vom ersten Schweizer Lottomillionär handeln, von Kapitalismus, Kolonialismus und Sklavenarbeit auf Zuckerplantagen.

Sie begann Material zu sammeln, schrieb überall und jederzeit eine kleine Notiz, wenn ihr etwas Wichtiges einfiel. Wie das Schriftsteller drinnen in Cafés oder draußen in Straßen und Parks eben so zu tun pflegen. Auf den Zetteln stand beispielsweise: „Die Höhepunkte, die bei Lady Chatterley ja crisis heißen.“ (S. 30) – „Wie heißt es noch mal bei Freud, beschreibt er nicht das Geschlechtsleben der Frau als dark continent.“ (S. 53) – „Das ohrenbetäubende Kreischen der Halbtoten, Wiedergänger.“ (S. 89)

Solcherart Gedankensplitter, Aphorismen, Assoziationen, Zitate, Musenküsse wanderten also in ihren Schreibblock. Ein paar erste ausgearbeitete Prosaskizzen und Dialoge gesellten sich dazu. Irgendwann war das Notizzettel-Konvolut zu einer so unüberschaubaren diffusen Menge angewachsen, daß es die Fähigkeit der Autorin, das alles noch zu einem stimmigen Ganzen zu verweben, zu etwas gar, das die Bezeichnung Roman verdient, erheblich überstieg. „Weil ich mit meinen Aufzeichnungen in Verzug geraten bin, weil ich, ehrlich gesagt, auch die Nase voll habe davon, alles mitzuschreiben, kann ich alle möglichen Dinge nicht mehr an ihrer eigentlichen Stelle unterbringen“, klagt das prosaische Ich auf Seite 190 und zweifelt fünfzehn Seiten später völlig zu Recht, „[o]b man mir bis hierher noch folgen oder dies alles als Protokoll eines Wahns, als Material für eine Fallstudie lesen wird“. 

Rohrkrepierer unter den Buchpreis-Kandidaten

Mit diesem Problem im Handgepäck, darf man weiter folgern, suchte die junge Autorin Rat beim Literarischen Colloquium Berlin, wo sich lauter kunstverständige Kreative tummeln. Und einer von ihnen wird die Lösung aus dem Hut gezaubert haben: „Das läßt du einfach alles so. Das ist Kunst.“ Aber ja doch: Kunst! Das bedeutet Bilder wie die von Jackson Pollock, auf denen keiner was erkennen kann, Textblock-Theaterstücke wie die von Elfriede Jelinek, Finten-Filme wie die von David Lynch oder Rätsel-Romane wie die von Peter Handke.

Beim ebenfalls enorm kunstverständigen Carl Hanser Verlag, wo man womöglich auf Elmigers neues Werk bereits ungeduldig wartete, dürfte sie mit dieser Argumentation offene Türen eingerannt haben. „Werden wir uns denn mit so einem Durcheinander nicht blamieren?“ wird die 35jährige vielleicht letzte Reste von Skepsis geäußert haben. „Das ist ja gar kein Roman, lediglich das Protokoll einer Recherche.“ Doch solche Reste von Skepsis sind bei einer abgebrühten Marketingabteilung bestens aufgehoben. Man setzte in die Welt, daß es sich bei dem Zettelkonvolut um kunstvoll verarbeitete Kapitalismuskritik handle, ein „Journal“ über Wollen und Begehren, versinnbildlicht durch den bis heute allgegenwärtigen Zuckerkonsum. Und man wagte dann auch noch – frech kommt weiter –, das inkohärente Sammelsurium zum Deutschen Buchpreis einzureichen. 

Die Welt im Erzählen verstehen, das sei nicht ihr Ansatz, erklärt Elmiger im Interview. Lücken und Brüche kämen ihrem Verständnis der Dinge viel näher, weil sie sich „vom Schreibenden nicht nur Klärung und Verstehen wünsche, sondern auch Verwirrung und Weiterdenken.“

Das klingt nach Entschuldigung, klingt, als sei ihr die Nominierung für den Buchpreis (übrigens auch den Schweizer) im letzten Jahr selbst nicht ganz geheuer. Und auch diejenigen, die sich hernach professionell mit dem Werk zu befassen hatten, verliehen mit Attributen wie „fragmentarisch“, „essayistisch“ oder „experimentell“ einer durchaus erwartbaren Hilflosigkeit Ausdruck.

Felix Stephan von der Süddeutschen Zeitung sprach für die (deutsche) Buchpreis-Jury von einer „Ermittlung“ in Kultur- und Literaturgeschichte. Zum Glück kann der Juror sich aber – als eine Art Passepartout, das jede Situation rettet – auf ein so immens wichtiges Thema wie den Kolonialismus verlassen. Er meint zu wissen, daß das Durcheinander Methode habe und zeige, „daß die europäische Geschichte seit der Frühaufklärung untrennbar mit dem Kolonialismus zusammenhängt und daß die Europäer, wenn sie sich etwas anderes erzählen, nur die Hälfte der Geschichte kennen“.

So geadelt bekommt auch dieser einzige echte Rohrkrepierer unter den sechs Büchern, die 2020 in der Endauswahl für den Deutschen Buchpreis standen, die Relevanz, die stupide Nullachtfünfzehn-Leser in ihm beim besten Willen nicht zu entdecken vermögen. Für sie ist „Aus der Zuckerfabrik“ von Dorothee Elmiger eine blamable Zumutung: strukturiert wie ein Mikadowurf, handlungsstark wie ein Nickerchen im Schaukelstuhl und spannend wie drei Kilometer Fliesenlegen.

Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Carl Hanser Verlag, München 2020, gebunden, 272 Seiten, 23 Euro