© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Gegen den kollektiven Gedächtnisschwund
Das Vineta-Museum zu Barth erinnert mit einer fulminanten Ausstellung an Ernst Moritz Arndt und seine Zeit
Wolfgang Müller

In der Frankfurter Paulskirche, bei der Eröffnung der Nationalversammlung am 18. Mai 1848, des ersten demokratischen Parlaments auf deutschem Boden, war ein Stuhl in der vordersten Reihe reserviert für den 79jährigen Historiker Ernst Moritz Arndt. Als er dort Platz nahm, erhoben sich die Abgeordneten und sangen „sein“ Lied, das seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon zum Bildungsgut aller sozialen Schichten des auf ein paar Dutzend Staaten verteilten deutschen Volkes: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Das dürfe nicht Preußen noch Bayern, Westfalen oder Schwaben, „O Nein! Nein! Nein!“, das müsse „das ganze Deutschland“ sein.

Opfer einer politisch-korrekten Bilderstürmerei

Die mit der Reichsgründung vom 18. Januar 1871 erreichte Einheit der kleindeutschen Nation wäre ohne diesen unermüdlichen publizistischen Vorkämpfer schwerlich zustande gekommen. Ohne Arndt, den meistgelesenen, für die Ausbildung des nationalen Gedankens wichtigsten Autor des 19. Jahrhunderts, kein Bismarck. Wie präsent seine patriotische Poesie im kollektiven Bewußtsein der Deutschen über Generationen hinweg war, daran erinnerte 2010, auf dem Höhepunkt des Streits um die Umbenennung der seit 1933 seinen Namen tragenden Greifswalder Universität, der Kieler Kirchenhistoriker Reinhart Staats: Nach den politischen Deklamationen des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ und vor den deutschen Predigten gefangener Wehrmachtspfarrer, die der Moskauer Rundfunk seit 1943 sendete, erklang die Melodie zu Arndts „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“. 

Eine geschichtsvergessene, ausgerechnet von Historikern, „Westimporten“ natürlich, angeführte und von der ewig dummen „Journaille“ (Karl Kraus) befeuerte Bilderstürmer-Rotte setzte sich in Pommern in diesem Streit letztlich mit knapper Mehrheit durch. Die Universität Greifswald hat den Namen mittlerweile abgelegt, schämt sich des Demokraten Ernst Moritz Arndt, der im Frankfurter Parlament von 1848/49 mit dafür gesorgt, daß neben der Einheit „Recht und Freiheit als hohe humanitäre Werte im deutschen Volk nicht vergessen werden konnten“ (Reinhart Staats). 

Da kommt es schon einem Wunder gleich, wenn, mit leichter Verspätung zum 250. Geburtstag am 26. Dezember 1769 (JF 52/19), die Stadt Barth, in der Tradition eines „kleinen gallischen Dorfes“ stehend, zu einer fulminanten Arndt-Ausstellung einlädt, die Bilder aus seinem Leben und seiner vorpommerschen Heimat während der Franzosenzeit präsentiert. „Uns Arndt in de Franzosentid“, wie die dem „Streiter für Gerechtigkeit, Freiheit und Einheit“ gewidmete, im September 2020 eröffnete Schau im Barther Vineta-Museum auf pommersch Platt heißt, soll noch bis zum August 2021 zu sehen sein, dürfte aufgrund zwischenzeitlicher, Corona-bedingter Schließung aber wohl verlängert werden.

Dem ausgesperrten Publikum steht derweil ein Begleitband zur Verfügung, der mehr als bloß Ersatz ist. Das opulente Werk, das der Kieler Ludwig-Verlag in einer polnischen Druckerei im pommerschen Kolberg aufwendig gestalten ließ, erfüllt mit seinen vielfach farbigen, gestochen scharfen Reproduktionen von Stadtansichten, topographischen Karten, Schlachtgemälden und Porträts die Ansprüche auch verwöhntester „Seh-Leute“. Der durchlaufende, von den Illustrationen und Beschreibungen der Ausstellungstücke unterbrochene Text vermittelt erfreulich genaue Einblicke in Arndts Familien-, in die regionale Sozial- und Kulturgeschichte des bis 1815 zum Königreich an der Gegenküste gehörenden „Schwedisch-Vorpommern“. 

Er greift freilich weit über diesen provinziellen Rahmen seiner Jugend, der Studien- und ersten Mannesjahre  hinaus und öffnet sich zu einer Darstellung der gesamten Revolutionsepoche im Spiegel eines außergewöhnlichen Lebensschicksals. Sie tritt insoweit, obgleich jene bleierne Zeit etwas kursorisch behandelt wird, während der der 1818 nach Bonn berufene Professor unter Metternichs Kuratel zum Schweigen verurteilt war, provisorisch an die Stelle einer immer noch vermißten modernen Biographie dieser titanischen Gestalt, die heute lediglich als „ein erstaunliches Beispiel für den kollektiven Gedächtnisschwund“ (Birgit Aschmann) dient, den die Bundesdeutschen vielleicht weniger erleiden als genießen.

Auf äußeren Lebensgang Arndts konzentriert

Diese Malaise möchten die Förderer und Ausrichter der Ausstellung ausdrücklich nicht thematisieren. Die schillernde Rezeptionsgeschichte Arndts, in der neben zahllosen Liberalen, Demokraten, Konservativen auch Kommunisten und Nationalsozialisten wichtige Rollen spielten, bleibt ausgespart, um nicht die im Greifswalder Getümmel um den „gegenwärtig umstrittenen Publizisten“ geschlagenen, schlecht vernarbten Wunden aufzureißen. Erwähnt wird sie nur im Telegrammstil, anknüpfend an zwei schöne Ausstellungsstücke, „Ernst-Moritz-Arndt-Medaillen“. Bis 1975 10.000 Mal verliehen vom Nationalrat der Nationalen Front der DDR für Verdienste im „Kampf für die Einheit unseres Vaterlandes“. Als unter Erich Honeckers Ägide das Ziel einer gesamtdeutschen sozialistischen Nation zugunsten einer „sozialistischen Nation des Volkes der DDR“ aufgegeben worden war, wanderten die noch vorrätigen Orden ins Altmetall. 

Diese, nicht nur die rezeptionshistorische Askese fordert einen hohen Preis. Denn Ausstellung und Begleitband müssen sich mit positivistischer Verve im wesentlichen auf den äußeren Lebensgang Arndts konzentrieren. Gerade auf das vielfältige und komplexe Werk, das in keiner historisch-kritischen Edition greifbar ist, und daher um so bequemer als Wundertüte zu nutzen war, aus der Greifswalder Geschichtsklitterer vermeintlich „belastende“ Zitate zu Arndts „Rassismus und Antisemitismus“ hervorzauberten, wird über Titel- und knappe Inhaltsangaben hinaus selten näher eingegangen. 

Zwangsläufig überläßt die Ernst-Moritz-Arndt-Gesellschaft daher dem Gegner kampflos das Feld, wenn es in ihrem Grußwort so unterwürfig wie kenntnisfrei heißt, man müsse dessen „antisemitische Aussagen aufs heftigste verurteilen“. Aus solchen Bekenntnissen spricht die rührende Ahnungslosigkeit wohlmeinender „bürgerlicher“ Kreise, die in der Regel mit Peinlichkeit verschwistert ist. Wie bereits die erste Fußnote zum großen Bewunderer des „deutschen Volksmannes Arndt“, zu Friedrich Gundolf (1880–1931) offenbart. Die zeitweilige „Nr. 2“ des George-Kreises firmiert dort als „eigentlich Friedrich Leopold Gundelfinger […], jüdischer Dichter und Literaturwissenschaftler“.

Gerd-Helge Vogel, Gerd Albrecht (Hrsg.): Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Bilder aus seinem Leben und seiner vorpommerschen Heimat während der Franzosenzeit. Verlag Ludwig, Kiel 2020, gebunden, 316 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro