© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Der Damm ist gebrochen
Schuldenbremse: Ihr gewollter Fall läutet das Ende haushalts- und finanzpolitischer Solidität ein
Kurt Zach

Viel ist es nicht, was nach mehr als fünfzehn Merkel-Jahren vom sogenannten „Markenkern“ der Union übriggeblieben ist. An eines der letzten Rudimente im löchrigen Gebiß der CDU hat jetzt Kanzleramtsminister Helge Braun persönlich die Sprengladung gelegt. Die vor einem Jahrzehnt mühsam im Grundgesetz verankerte „Schuldenbremse“ solle nicht mehr wie in Artikel 115 GG vorgesehen ausnahmsweise, sondern gleich für einen längeren Zeitraum außer Kraft gesetzt werden.

Das wäre das absehbare Ende einer Regelung, mit der sich die Union bislang noch als Hüter der Haushaltsdisziplin inszenieren konnte. Einmal abgestreift, legen chronisch ausgabesüchtige Politiker sich die Fesseln so leicht nicht wieder freiwillig selbst an. Solide war die Haushaltspolitik der Merkel-Regierungen freilich auch vorher schon nur noch der äußeren Form nach.

Auch mit Schuldenbremse schwimmt der deutsche Staat im Geld: Die Gesamtstaatseinnahmen sind von 2005 bis 2019 um die Hälfte auf rund 1,5 Billionen gestiegen, der Bundeshaushalt wuchs im selben Zeitraum um ein Drittel auf 343 Milliarden Euro, die kumulierten Sozialausgaben, die vor zwanzig Jahren noch bei rund 600 Milliarden Euro lagen, haben 2019 erstmals die Billionen-Grenze geknackt. 

Daß die Netto-Neuverschuldung in den letzten Jahren trotzdem nahe Null lag, verdankt sich neben allerlei Bilanz- und Auslagerungstricks vor allem der Eselsgeduld der geschröpften Steuerbürger, die die höchste Steuer- und Abgabenlast aller Industrieländer tragen und sich mit Minuszinsen laufend enteignen lassen, damit die öffentliche Hand mit Schuldendienst zum Nulltarif die Bilanz sanieren kann. Gemessen am Privatvermögen der Bürger ist Deutschland kein reiches Land, aber es leistet sich einen reichlich gemästeten Staat.

Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse hindert die Regierungskoalition nicht, im vergangenen und laufenden Jahr zusätzliche Schulden im Umfang eines vollen Jahres-Bundeshaushalts anzuhäufen – rund 340 Milliarden Euro. Davon ist schon einiges rechtswidrig auf Vorrat aufgenommen, um im Wahljahr Geschenke verteilen zu können. Daß linke Umverteilungspolitiker gern die Gelegenheit ergreifen würden, die für 2020 und 2021 per Notlagen-Beschluß einmalig außer Kraft gesetzte Schuldenbremse dauerhaft abzuräumen, um für ihre Ideologiepolitik aus dem vollen schöpfen zu können, überrascht kaum.

Daß der Anschlag auf die Schuldenbremse aus dem Zentrum der Macht geführt wurde, ist dagegen ein Paradigmenwechsel, auch wenn der Kanzleramtsminister nach Protest einiger überrumpelter Unionspolitiker erstmal zurückrudern mußte. Daß Helge Braun als treue Stimme seiner Herrin den Coup ohne Wissen der Kanzlerin geführt hat, glaubt nicht mal der Weihnachtsmann. 

Der Beifall der Grünen und der Linken, denen Brauns Vorschlag noch nicht weit genug geht, spricht Bände: Die Schulden-Zahnpasta ist aus der Tube und kommt so leicht nicht mehr dahin zurück. Mögen SPD-„Kanzlerkandidat“ Olaf Scholz und der frischgebackene CDU-Vorsitzende Armin Laschet auch grummeln, weil man sie vorher nicht gefragt hat – geschworene Gegner linker Schuldenpolitik sind beide nicht.

Ob Braun nun im Auftrag der Kanzlerin Laschet zeigen wollte, wer auch nach dem Abgang der Spinne im Netz bestimmt, wo es langgeht; ob Merkel und ihr Minenhund dem neuen Vorsitzenden seine Taktik verderben wollten, auch wirtschaftsfreundliche Merz-Anhänger einzubinden und sich so zumindest kosmetisch von den bleiernen Merkeljahren abzusetzen, oder ob die Kanzlerin einfach nur selbst den Grün-Linken zur Anbiederung das letzte programmatische Tafelsilber der Union zum Opfer darbringen wollte, darüber läßt sich trefflich im Berliner Kaffeesatz lesen.

Der parteitaktische Aspekt ist das eine; der Linksrutsch der Union in Richtung Schuldensozialismus hat aber auch eine grundsätzliche Dimension. Im Hintergrund hört man Wolfgang Schäuble kichern, der schon vor Monaten die Krise zur „Chance“ erklärte, um den „Widerstand gegen Veränderungen“ zu brechen und auf EU-Ebene „die Wirtschafts- und Finanz-union, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben“, endlich zu schaffen.

Das ist, von der Öffentlichkeit im Zuge der Corona-Dauerpanik kaum wahrgenommen, bereits in die Wege geleitet. Der im Juli maßgeblich auf Betreiben Merkels und der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen beschlossene EU-„Wiederaufbaufonds“ war der Einstieg in eine Schuldenunion, bei der die EU wie ein De-facto-Staat Schulden aufnimmt, das Geld an die Krisen-Südländer verteilt und „alle“ Mitgliedstaaten, in letzter Instanz also die deutschen Steuerzahler, dafür geradestehen. Olaf Scholz ist von dieser Gelddruck- und Umverteilungsmaschine so angetan, daß er sie in Dauerbetrieb nehmen will.

Hinzu kommt die ideologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durch Corona- und Klima-Repression: Mittelstand und Mittelschicht sind die großen Verlierer von Lockdown und Energiewende, der Staatssektor wird gestärkt, der Anteil der Einwohner und Unternehmen, die von staatlichen Zuwendungen abhängen, wächst rapide. 

Beides zusammen ergibt immense Ausgabeverpflichtungen, die zwangsläufig sowohl die Schulden- als auch die Steuerlast in schwindelerregende Höhen treiben werden. Eine „Schuldenbremse“ steht da nur im Wege. Die Attacke aus dem Kanzleramt war das Totenglöcklein, das das Ende der haushalts- und finanzpolitischen Solidität in Deutschland eingeläutet hat. Die war bislang allerdings auch der letzte Garant für die internationale Kreditwürdigkeit der Euro-Weichwährung. Verfällt jetzt Deutschland ebenfalls der hemmungslosen Schuldenmacherei, könnte das den Euro mit in den Abgrund reißen.