© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Nach dem Schimpfgipfel
Corona I: Das Treffen von Kanzlerin und Ministerpräsidenten endet ergebnislos / Der Mangel an Impfstoff bleibt
Peter Möller

Die Nerven liegen blank. Mit diesem Satz läßt sich die Lage an der deutschen „Impffront“ kurz und knapp zusammenfassen. Anders als nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang vergangenen Jahres erwartet, hat mit dem Beginn der Impfungen keine Aufhellung der seit Monaten durch den immer wieder verschärften wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lockdown getrübten gesellschaftlichen Stimmung stattgefunden – im Gegenteil. 

Denn Deutschland hat einen fulminanten Fehlstart bei den Impfungen gegen das Coronavirus hingelegt: Es wird zu wenig und zu langsam geimpft, wenn denn überhaupt ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht. Wie blank die Nerven bei vielen politisch Verantwortlichen mittlerweile liegen, zeigte am vergangenen Samstag ein Tweet von Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD): „Gerade teilt das Bundeskanzleramt mit, daß jetzt auch die zugesagten Lieferungen der Moderna-Impfstoffe reduziert werden. Wie soll man da die Impfungen planen?“

Staunend muß die Öffentlichkeit mit ansehen, daß Länder wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und nicht zuletzt Israel Deutschland bei den Impfzahlen davoneilen. Selbst innerhalb der EU liegt die Bundesrepublik derzeit nur auf Platz 15 der Impfrangliste. Was vielen besonders sauer aufstößt: Viele dieser Impfungen erfolgen mit dem in Deutschland entwickelten – und mit Steuergeld finanzierten Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech. Seit Tagen sprechen daher in Berlin nicht nur Oppositionspolitiker von einem Impfdesaster und -chaos. Auf Twitter, in dem sich politische Diskussionen häufig wie in einem Brennglas konzentrieren, trendete Ende der vergangenen Woche der Hashtag „SpahnRücktritt“. Der zunehmend dünnhäutiger reagierende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird mittlerweile sogar von Parteifreunden für den verpatzten Start der Impfkampagne verantwortlich gemacht. Wie stark der Druck auf Spahn mittlerweile ist, zeigte seine Bereitschaft, auf den aus Reihen der SPD geforderten „Impfgipfel“ einzugehen – die Forderung war eine kaum verhohlene Mißtrauensbekundung gegenüber Spahn.

Am Ende wurde von dieser kurzfristig für diesen Montag einberufenen Zusammenkunft, zu der neben der Bundeskanzlerin, den Ministerpräsidenten auch Vertreter der Pharmaunternehmen und der EU geladen waren, nicht weniger erwartet als die Lösung des deutschen Impfproblems. Doch an diesen hochgesteckten Erwartungen mußte der Gipfel angesichts der strukturellen und organisatorischen Unzulänglichkeiten der Impfkampagne scheitern. Zwar stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der mehr als fünf Stunden dauernden Zusammenkunft einen nationalen Impfplan in Aussicht, doch am Ende war klar, daß auch in den kommenden Wochen und Monaten nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung stehen wird. Der Gesundheitsminister sprach in diesem Zusammenhang von „harten Wochen der Knappheit“ bis in den April hinein. 

Nicht gelöst werden konnte offenbar das mangelhafte Impfstoff-Management der EU, auf das sich die Bundesregierung verlassen hatte, um sich nicht dem Vorwurf des Impfstoffnationalismus auszusetzen. „Die EU-Kommissare konnten für mich nicht überzeugend darstellen, warum nicht mehr bestellt wurde, wie es in anderen Ländern der Fall ist“, brachte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) ihre Unzufriedenheit auf den Punkt. Merkel bekräftigte unterdessen, ihre „Aussage, daß wir bis Ende des dritten Quartals jedem Bürger ein Impfangebot machen können“, könne „aufrechterhalten werden“ – wohl wissend, daß andere Länder dieses Ziel weit früher erreichen dürften.

„Harte Wochen der Knappheit bis April“

Die schleppenden Fortschritte beim Impfen treffen mit einer zunehmenden Ermüdung der Bevölkerung angesichts des nunmehr bereits seit November andauernden Lockdowns zusammen. Vor allem mit Blick auf die geschlossenen Schulen wächst der Druck auf die Politik. In mehreren Bundesländern wird daher bereits offen über Lockerungsmaßnahmen und eine Öffnung der Bildungseinrichtungen diskutiert. Am Dienstag standen im sächsischen Kabinett Pläne des Kultusministeriums für eine Schulöffnung ab dem 15. Februar auf der Tagesordnung. Bereits am Sonntag hatte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil einen Stufenplan zur Lockerung des Lockdowns ins Gespräch gebracht. Dieser dürfe allerdings kein Automatismus sein, sagte er der ARD. Demnach könnte Wechselunterricht an den Schulen wieder stattfinden, wenn die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche unter 100 sinke. Bei einem Wert unter 50 könnten Hotels und Gastronomie den Betrieb wieder aufnehmen, auch der Einzelhandel dürfte mit Hygienekonzepten öffnen. Gleichzeitig könnten die Schulen zum Präsenzunterricht zurückkehren.  Bei einem Wert unter 25 Neuinfektionen dürften nach den Vorstellungen Weils Theater und Kinos wieder öffnen.

Unterdessen leistete sich der rotrotgrüne Berliner Senat inmitten des wachsenden Impfchaos eine ganz besondere Posse. Für einen kurzen Augenblick schien es am Donnerstag vergangener Woche, als ob Berlin seinen Beitrag zur Überwindung des Impfstoffmangels leisten könnte. Im Abgeordnetenhaus verkündete Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD), der Senat stehe in Gesprächen mit dem Pharmaunternehmen Berlin-Chemie. „Berlin steht bereit, bei der Impfstoff-Produktion mitzuhelfen“, weckte sie Erwartungen. Das Berliner Unternehmen prüfe gemeinsam mit der Gesundheitsverwaltung den Aufbau von Produktions-Kapazitäten für einen Corona-Impfstoff. Indes: Das Unternehmen ist dazu gar nicht in der Lage. 

„Meine Erkenntnisse sind, daß es nicht um Impfstoffproduktion, sondern um die Abfüllung von Impfstoffen geht“, relativierte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) noch am selben Tag die Äußerungen. Doch auch das war offenbar zu optimistisch, denn aus dem Unternehmen wurde bekannt, daß Berlin-Chemie derzeit auch nicht über die Ausstattung für die Abfüllung von Corona-Impfstoff verfügt.