© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Der Hodscha von Hildesheim
„Pate des Terrors“: Vor dem Oberlandesgericht in Celle steht der bisher größte deutsche Islamisten-Prozeß kurz vor dem Abschluß
Karsten Mark

Anis Amri, dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, soll er vor dem tödlichen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt noch seinen „Segen“ erteilt haben. Mindestens zwei Dutzend junge Männer schickte er nach Syrien und in den Irak in den vermeintlich „heiligen Krieg“ – wahrscheinlich noch weitaus mehr. Seit mehr als drei Jahren und über 240 Verhandlungstagen steht der mutmaßliche Chefideologe und Statthalter des Islamischen Staats (IS) in Deutschland, „Abu Walaa“, gemeinsam mit drei Komplizen im niedersächsischen Celle vor Gericht (JF 41/17). 

Nun neigt sich der Mammutprozeß, der bisher fast zehn Millionen Euro für Pflichtverteidiger, Dolmetscher, Sachverständige und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen verschlungen hat, seinem Ende entgegen. Noch in diesem Monat soll das Urteil fallen. Die Bundesanwaltschaft fordert elfeinhalb Jahre Haft für den 36jährigen wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Terrorismusfinanzierung und Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat.

„Junge lassen sich besser formen“

Ahmad Abdulaziz Abdullah Abdullah, so heißt „Abu Walaa“ mit bürgerlichem Namen, hat sein großes Talent, andere zu manipulieren, schon früh entdeckt. Noch minderjährig und ohne Papiere, war er 2001 als Asylbewerber aus dem Irak nach Deutschland gekommen und arbeitete in seinem ersten Job als Jeansverkäufer – wohl nicht ganz erfolglos, denn schon bald stieg er auf zum „Verkaufsgebietsvertreter“ für Erfrischungsgetränke der Marke „Sultan-Cola“. Doch Abdullah fühlte sich zu weitaus Höherem berufen: zum Prediger und Missionar. Sein Talent half ihm dabei. Als „Abu Walaa“ brachte er die radikale Koranauslegung der Salafisten per Internetvideos unter seine überwiegend junge Anhängerschaft und agierte im verborgenen als hochrangiger Vertreter des mörderischen „Islamischen Staats“ IS – nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft war Abdullah sogar der Statthalter des IS in Deutschland mit allerbesten Kontakten zu Führung und Geheimdienst der Terrororganisation im Nahen Osten. 

Als radikaler „Prediger ohne Gesicht“, der sich in seinen Videos immer nur von hinten mit schwarzem Turban und schwarzem Umhang aufnehmen ließ, stand Walaa schon lange vor seiner Festnahme im November 2016 unter Beobachtung von Polizei und Geheimdiensten. Denn Walaa bezeugte nicht nur durch seinen Kleidungsstil seine Verehrung für Abu Bakr al-Baghdadi, den damaligen Anführer des IS, den Walaa ganz unverhohlen „unseren Kalifen“ nannte.

Dem nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt war es gelungen, einen V-Mann in der Salafisten-Szene anzuwerben. Handfest Strafbares ließ sich Abu Walaa indes erst einmal nicht nachweisen. Peinlich genau soll er darauf geachtet haben, daß Gespräche und Predigten nicht mit Mobiltelefonen mitgeschnitten wurden, wenn er sich mit Anhängern im von ihm gegründeten und mittlerweile verbotenen „Deutschsprachigen Islamkreis“ in Hildesheim traf. Als Vereinslokal diente dem Moscheeverein ein aufgegebener Schlecker-Drogeriemarkt in Hildesheim, wo Walaa mehrtägige Seminare veranstaltete, um junge Männer für den „heiligen Krieg“ gegen „Ungläubige“ zu begeistern. Von dort aus pflegte er auch intensive Kontakte in Richtung Ruhrgebiet, wo es ähnliche Veranstaltungen in Hinterzimmern und Privatwohnungen gab. Seine beiden Frauen und sieben Kinder lebten unterdessen in der kleinen niederrheinischen Stadt Tönisforst im Großraum Düsseldorf.

Walaas Mitangeklagter Hasan C. etwa rekrutierte und fanatisierte seine „Schüler“ im Hinterzimmer seines Duisburger Reisebüros. Weil er ihnen Arabisch beibrachte, um den Koran im Original lesen zu können, wurde er „der Hodscha“ (Lehrer) genannt. C., der mit Mitte Fünfzig der deutlich älteste der Angeklagten ist, nahm am liebsten besonders junge Schüler in seine klandestine Koranschule auf. Der Jüngste von ihnen war gerade einmal 14. „Die Jungen sind Gold wert“, soll er einmal im kleinen Kreis geschwärmt haben. „Sie lassen sich besser formen.“ Formen wollte der Hodscha indes nicht nur im Hinblick auf religiöse Belange. Regelmäßig zeigte er den Jugendlichen Videos von grausamen Hinrichtungen des IS. Am Ende des Unterrichts soll die immer gleiche Parole gestanden haben: „Tötet die Ungläubigen!“

Die Botschaft fiel auf fruchtbaren Boden. So gehörten die beiden Minderjährigen, die im April 2016 in Essen einen Sprengstoffanschlag mit mehreren Verletzten auf einen Tempel indischer Sikhs verübten, zu den Lehrlingen des Hodschas. Sie handelten ganz in seinem Sinne: Wer nicht nach Syrien reisen könne oder wolle, um dort für den IS zu kämpfen, solle zumindest Anschläge in Deutschland begehen. So hat auch die Attacke im Ruhrgebiet bei den Dschihadisten in Syrien durchaus Anerkennung gefunden. Recherchen der Berliner Morgenpost zufolge soll es in einem geheimen Internet-Chat bereits die Anregung gegeben haben, als nächstes die Essener Synagoge anzugreifen.

Zu Besuch im Hinterzimmer des Duisburger Reisebüros von Hasan C. ist auch Anis Amri gewesen, der spätere Attentäter vom Breitscheidplatz. Ebenso beim dritten der Angeklagten von Celle, dem Serben Boban S., war Amri zu Gast. S. veranstaltete seine Dschihadisten-„Seminare“ in seiner Dortmunder Privatwohnung. Das Spezialgebiet des 40jährigen Chemietechnik-Ingenieurs war der Bombenbau mit leicht verfügbaren Haushaltschemikalien. Das LKA in Nordrhein-Westfalen war über Boban S. auch Amri bereits im Februar 2016 auf die Schliche gekommen – letztlich ohne Konsequenzen. Die durchgesickerten Informationen stammten von einem V-Mann mit dem Decknamen „Murat Cem“, der für den Prozeß in Celle wegen der großen Gefahr für Leib und Leben allerdings keine Aussagegenehmigung vom NRW-Innenministerium bekommen hatte. Nachdem der V-Mann aufgeflogen war, hatte Walaa persönlich seine Anhänger zum Mord an dem Verräter aufgerufen.

Unter dem Schutz der Behörden und falscher Identität lebt auch Anil O., der sich als junger Medizinstudent in Gelsenkirchen von Rekrutierern des Abu-Walaa-Netzwerks dazu bewegen ließ, nach Syrien in den „heiligen Krieg“ zu ziehen. Doch mit der grausamen Realität konfrontiert, wandte er sich wieder ab vom Islamischen Staat, kehrte nach Deutschland zurück und packte schließlich bei den Behörden umfassend aus, um selber einer höheren Strafe zu entgehen.

Die Anklagen in Celle stützen sich zu wesentlichen Teilen auf die Aussagen dieses Kronzeugen, der Abu Walaa eindeutig als Kopf des Terror-Netzwerks in Deutschland identifiziert. Wer als Kämpfer nach Syrien ausreiste, wurde dem Zeugen zufolge vorher noch zu Walaa nach Hildesheim geschickt, um sich dort den ideologischen Feinschliff zu holen.

Verteidigung nennt Zeugen einen „Hochstapler“

Deshalb fußt die Strategie der Verteidiger im wesentlichen darauf, die Glaubwürdigkeit des selber zu einer sehr milden Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilten Zeugen anzuzweifeln: Er sei ein Hochstapler, ein notorischer Lügner, der seine eigenen Verbrechen nur kleinreden wolle. Die Bundesanwaltschaft sieht das anders. Die Geschichte des Kronzeugen füge sich sehr gut in die Fülle von Indizien, die andere Ermittlungen ergeben hätten. 

Außerdem gibt es noch einen weiteren Belastungszeugen: Ahmed F. saß ursprünglich als fünfter Angeklagter im Prozeß. Nach drei Jahren Verhandlung rang er sich im April 2020 zu einem Geständnis durch und belastete seinerseits Abu Walaa. Dieser habe einen direkten Draht zum IS gehabt. Das Gericht trennte das Verfahren gegen F. ab und verurteilte ihn zu milden drei Jahren Haft, die mit der Untersuchungshaft bereits abgesessen waren.

Für Hasan C. und Boban S. fordert die Bundesanwaltschaft neuneinhalb und zehn Jahre Haft wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Ein vierter Angeklagter, Mahmoud O., der sich vor allem als Schleuser für den IS betätigt haben soll, ist bereits aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Ihm drohen viereinhalb Jahre Haft.





Bedrohung auf hohem Niveau

Der Prozeß gegen Abu Walaa, den „IS-Statthalter“ in Deutschland und „Paten des Terrors“, veranschaulicht den Aufwand, gegen dschihadistische Prediger strafrechtlich vorzugehen. Und obwohl Abu Walaas Netzwerk zerschlagen ist, geben Experten keine  Entwarnung. Zwar zeigten die militärischen Niederlagen des Islamischen Staates (IS) Wirkung, doch die Bedrohungslage für Deutschland sei nach wie vor „auf hohem Niveau“, so die Bundesregierung. Daß weiterhin mit Anschlägen zu rechnen sei, zeigten im vergangenen Jahr die islamistisch motivierten Tötungsdelikte in Dresden, Paris, Nizza und Wien. Das Personenpotential „im Bereich des Islamismus/Islamistischen Terrorismus“ liege bei rund 28.000. Anfang dieses Jahres befanden sich laut Bundesregierung 346 sogenannte islamistische Gefährder und 462 relevante Personen in Deutschland. Gefährdern wird jederzeit eine schwere oder staatsgefährdende Straftat zugetraut, als „relevant“ bezeichnen Sicherheitsbehörden jene, die innerhalb einer extremistischen Gruppe eine Führungsrolle oder zumindest die Funktion eines Unterstützers innehaben. (vo)