© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

„Technologische Souveränität“
Autoindustrie: Die deutsche Fahrzeugproduktion ist vom globalen Chipmangel kalt erwischt worden / Corona taugt nicht als Ausrede
Paul Leonhard

Hildegard Müller kann mit 53 Jahren auf eine ziemlich bunte Karriere zurückblicken: Dresdner Bank, Chefin der Jungen Union, CDU-Bundestagsabgeordnete, Staatsministerin im Kanzleramt, Wirtschaftssprecherin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) oder Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Vor einem Jahr folgte der überraschendste Karriereschritt: Obwohl die Bankkauffrau „kein Benzin im Blut“ hatte, wurde sie Präsidentin des vor 120 Jahren gegründeten Verbands der Automobilindustrie (VDA).

Statt robust und proaktiv die Interessen der 600 Mitgliedsfirmen und den 800.000 Beschäftigten zu vertreten, ist nun BWL-Sprech angesagt: „Wir haben das Auto erfunden, jetzt erfinden wir es neu“, erklärte Müller auf der digitalen VDA-Jahrespressekonferenz. Die deutsche Autoindustrie sei Europameister bei der E-Mobilität und bei Patenten in diesem Bereich: „Auch in den anderen Feldern sind wir Spitze: bei Forschung und Entwicklung, in den Bereichen Antrieb, Batterie, Hybrid, bei der Digitalisierung, dem autonomen Fahren, bei der Verbesserung des Kolbenmotors und der Senkung von Abgaswerten.“

So sollten wohl die Klimakanzlerin wie die Greta-Gläubigen beruhigt werden. Alles paletti? Da gibt es diese verflixte Sache mit den fehlenden Halbleitern. Denn die geforderten „Zukunftstechnologien“ erfordern jede Menge elektronischer Bauteile. Und bei diesen hat sich die deutsche Autobranche in eine gefährliche Abhängigkeit von asiatischen Herstellern begeben: Nicht wegen Corona, sondern wegen Chipmangel mußte Audi im Januar 10.000 Beschäftige in Ingolstadt und Neckarsulm in Kurzarbeit schicken.

VW waren die Halbleiter bereits im Dezember ausgegangen – es gab Kurzarbeit für das Werk in Emden und 9.000 Arbeitnehmer. Produktionskürzungen wurden auch für Standorte in Amerika sowie bei den Töchtern Škoda und Seat und Audi vermeldet. Ford stellte in Saarlouis die Focus-Fertigung ein. Daimler und die Zulieferer Hella, Bosch und Continental mußten ihre Produktion drosseln. Wegen fehlender Chips könnten in diesem Jahr weltweit bis zu 2,2 Millionen Fahrzeuge weniger gebaut werden. Engpässe meldeten sogar Toyota, Fiat, Nissan und Honda.

Bettelbrief an das sonst geschmähte Taiwan

Das Klagen über fehlende Mikrochips hat solche Ausmaße angenommen, daß sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier veranlaßt sah, das ansonsten geschmähte Taiwan um Hilfe zu bitten. In Taipeh zeigte man sich angesichts der globalen Engpässe bei Halbleitern wenig erstaunt vom Brief aus Berlin. Die Chiphersteller der 23,5-Millionen-Einwohner-Insel von der Größe Baden-Württembergs würden ihre Produktion optimieren, Kapazitäten ausbauen und sogar mit anderen Kunden verhandeln, um die Versorgung der deutschen Hersteller mit Auto-Chips an die oberste Stelle zu setzen, teilte Taiwans Wirtschaftsministerin Wang Mei-hua mit, die von einer „langfristigen Nachfrage“ ausgeht.

Allerdings benötigen selbst die dortigen großen Produzenten, darunter die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) als weltgrößter Auftragsfertiger, einige Zeit, um den riesigen Bedarf zu befriedigen. Der Chipmangel könnte in diesem Jahr „länger anhalten“, mußte VDA-Chefin Müller eingestehen. Kurzfristig sei nicht mit einer Entspannung zu rechnen. Warum ist es aber zu diesen Engpässen gekommen? Die Autokonzerne verweisen auf die Chiphersteller, die im Corona-Frühjahr 2020 – als der Autoabsatz einbrach – ihre Produktion auf Unterhaltungselektronik umgestellt hätten.

Es dauere wieder „ein paar Monate, um die Produktion erneut umzustellen“, sagt Wolfgang Weber, Geschäftsführer des Verbands der deutschen Elektronikindustrie ZVEI. Überhaupt sei es ein Glück, daß den Elektronikanbietern vor einem Jahr diese Umstellung gelungen sei. Die Fertigung von Chips, Sensoren oder Controllern sei kostspielig, eine hohe Auslastung der Werke überlebenswichtig, mahnt der ZVEI-Chef. Auch das sollten die Autohersteller künftig stärker berücksichtigen. In China, wo die Pandemie ihren Ursprung hatte, läuft die Produktion aber schon längst wieder auf Hochtouren. Am VW-Gewinn 2020 von zehn Milliarden Euro hat China einen starken Anteil (JF 5/21).

Peter Buchholz, Chef der Deutschen Rohstoffagentur (Dera), einer Fachbehörde in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), verweist auf die längere Trockenheit in einigen Regionen der Volksrepublik China. Wegen dieser sei es zu einer geringeren Stromproduktion aus Wasserkraft gekommen, was wiederum dazu führte, daß 20 große Schmelzanlagen für die Siliziumaufbereitung nicht arbeiten konnten. Die EU dürfe sich nicht allein auf die Versorgung aus Asien verlassen, sondern müsse solche Dinge auch verstärkt selbst produzieren, mahnt inzwischen auch VDA-Präsidentin Müller. Europa als Wirtschaftsraum brauche eine größere eigenständige Versorgung.

Die Chiphersteller des Kontinents sollten mehr eigene Produktionsmöglichkeiten aufbauen, verlangt der Branchenverband ZVEI, er mahnt eine „technologische Souveränität“ an. Diese erfordert aber einen engeren Zusammenschluß zwischen der Autobranche und dem Maschinenbau („Industrie 4.0“) auf der einen und den verbliebenen hiesigen Chipherstellern auf der anderen Seite. Denn bei der Preisgestaltung ist die europäische Branche im Vergleich zur asiatischen Konkurrenz im Nachteil. Die gegenwärtigen Engpässe bei der Chipversorgung, so Müller, würden einen „grundsätzlichen strategischen Mangel für die Industrie in Deutschland und Europa“ deutlich machen: Es gebe zu große Lücken bei wichtigen Zukunftsthemen.

Altmaier verweist auf das Important Project of Common European Interest (IPCEI). Aktuell werden 18 deutsche Firmen beim Bau von Chipfabriken sowie bei der Entwicklung von Mikroelektronikkomponenten unterstützt. Bis 2023 stünden dafür eine Milliarde Euro bereit. Im globalen Vergleich sind das Peanuts. Allein Samsung, nach Intel die Nummer zwei der Halbleiterindustrie und der führende Speicherchip-Produzent, will im laufenden Jahrzehnt 116 Milliarden Dollar in Auftragsfertigung und Chipdesign investieren. Die deutschen Autobauer selbst wollen nach VDA-Angaben bis 2025 selbst 150 Milliarden Euro vor allem in Elektromobilität und Digitalisierung stecken.

 www.zvei.org

 www.ipcei-me.eu