© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Auf dem Irrweg zur Euthanasie
Sterbehilfe: Zur Debatte um assistierten Suizid in kirchlich-diakonischen Einrichtungen
Manfred Spieker

Evangelische Theologen erklärten am 11. Januar dieses Jahres in der FAZ, es sei Aufgabe kirchlich-diakonischer Einrichtungen, „Möglichkeiten eines assistierten Suizids in den eigenen Häusern anzubieten oder zumindest zuzulassen und zu begleiten“. Dies gebiete der Respekt vor der Selbstbestimmung. Zu den Unterstützern gehörten unter anderem der Präsident des Diakonischen Werkes, Ulrich Lilie, der zugleich Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände ist, der Vorsitzende der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, Reiner Anselm, und der Bischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, Ralf Meister.

Die Theologen meinten, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 folgen zu müssen, das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Artikel 2, Absatz 2, und der Gewährleistung der Menschenwürde in Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ abgeleitet hatte. Dieses Recht schließe, so das Gericht, auch die Freiheit ein, die von Sterbehilfevereinen angebotene Hilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen.

Die Theologen hielten dem Gericht zwar vor, in manchen Aussagen einer „heroisch-existentialistischen Verklärung der Selbstbestimmung“ zu folgen, behaupteten aber zugleich, in der Hochschätzung des Individuums und seiner Selbstbestimmung gäbe „es keine Differenz zwischen dem Urteilstenor des Verfassungsgerichts und der evangelischen Ethik“. Um den Suizidwilligen die Suche nach Sterbehilfevereinen zu ersparen, denen sie vorwarfen, „nicht im Interesse des Lebensschutzes“ zu handeln, sollte die Kirche als „sicherer Ort“ die Suizid-

assistenz selbst in die Hand nehmen und Seelsorger ausbilden, die in der Lage sind, Suizidwillige zu begleiten.

Ob der eigenen Verklärung der Selbstbestimmung schien den Autoren dann doch bange zu werden, denn sie schreiben dem Arzt eine „hervorgehobene Rolle bei der Beurteilung der Freiverantwortlichkeit“ des Suizidwunsches zu und verlangen vom Suizidwilligen, sich „zum Schutz der Selbstbestimmung …von einer anerkannten Beratungsstelle beraten zu lassen“. Der Arzt soll auch für die Qualitätssicherung des Suizids eine Letztverantwortung übernehmen, soll den Suizid „professionell“ – „auf sichere und nicht qualvolle Weise“ – vollziehen, soll also den Suizid nicht verhindern, sondern kultivieren. So endet Suizidassistenz schließlich bei aktiver Sterbehilfe. Die Tötung auf Verlangen liegt in der Logik der Suizidassistenz. 

Der Ratsvorsitzende der EKD, der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, und die katholische Deutsche Bischofskonferenz haben der Forderung umgehend widersprochen. Es sei nicht Aufgabe kirchlich-diakonischer Einrichtungen, Suizidwilligen den Weg zum Suizid zu öffnen. Zwar sei die Selbstbestimmung des Sterbewilligen zu respektieren, aber dadurch würde der Suizid nicht zu einer normalen Todesoption oder einer ethisch zustimmungsfähigen Handlungsmöglichkeit.

Am 25. Januar 2021 widersprachen, ebenfalls in der FAZ, auch der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, und der Marburger Theologe und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock. Sie verwiesen auf den Zusammenhang von Selbstbestimmung und Sozialität sowie auf die Einsichten der Suizidforschung, daß der Suizidwunsch oft aus Verzweiflung geboren wird. Suizidassistenz könne auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts weder als ärztlich indizierte Handlung noch als kirchliche Amtshandlung angesehen werden. Patienten in kirchlichen Pflegeheimen dürften nicht mit der Frage konfrontiert werden, „warum sie noch da seien“. Dem Bundesverfassungsgericht bescheinigten sie eine eigenwillige Auffassung von Selbstbestimmung.

Wolfgang Huber hatte in der Frankfurter Allgemeinen schon am 21. September 2015 – in der Debatte um das Verbot der Sterbehilfevereine, aus der der vom Bundesverfassungsgericht verworfene Paragraph 217 Strafgesetzbuch (StGB) hervorgegangen war – daran erinnert, daß Selbstbestimmung immer ein Resultat von Kommunikationsprozessen ist und schnell in offene oder versteckte Fremdbestimmung umschlagen kann. Er hatte davor gewarnt, daß die Tötung auf Verlangen nicht mehr zu verhindern sei, wenn die Suizidassistenz unter Berufung auf das selbstbestimmte Sterben zugelassen werde.

Huber schloß allerdings damals, wie auch jetzt wieder zusammen mit Dabrock, die ärztliche, seelsorgerliche und pflegerische Suizidassistenz im Einzelfall nicht aus. Das Verbot einer gewissenhaften Abwägung, die im Einzelfall zu dem Ergebnis kommen könne, einen Suizid unterstützen zu sollen, setze wichtige Grundsätze des ärztlichen Ethos ebenso außer Kraft wie ein genereller Anspruch auf ärztliche Suizidassistenz.

Huber stand hinter dem Paragraphen 217 StGB, der zwar die geschäftsmäßige Suizidassistenz verbot, aber die private durch Angehörige, Ärzte und andere nahestehende Personen ausdrücklich erlaubte, der also – ähnlich wie die Beratungsregelung im Schwangerschaftskonflikt – das Ja und das Nein zum Lebensschutz in unentwirrbarer Weise verknotete. Der Paragraph 217 StGB war gerade nicht das „starke Zeichen für den Lebensschutz“, das der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, und der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, in ihm sehen wollten. Insofern braucht diesem Paragraphen niemand nachzutrauern – selbst wenn zu befürchten ist, daß die nun im Bundestag diskutierte Neuregelung den Lebensschutz nicht weniger mißachtet. 

Die katholische Kirche trauert ihm nicht nach. Sie tritt für ein generelles Verbot der Suizidassistenz ein, woran auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts ändern wird. Eine Suizidassistenz in kirchlichen Einrichtungen kann sie nicht zulassen. Das zeigt nicht nur die Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz, das zeigen auch und vor allem drei Dokumente des kirchlichen Lehramtes: der Katechismus der katholischen Kirche (1993), die Enzyklika „Evangelium Vitae“ von Papst Johannes Paul II. (1995) und das Schreiben der vatikanischen Glaubenskongregation über die „Sorge an Personen in kritischen Phasen und in der Endphase ihres Lebens“ mit dem Titel „Samaritanus Bonus“ (2020).

Der Katechismus unterstreicht, daß der Suizid der natürlichen Neigung des Menschen, sein Leben zu bewahren, widerspricht. Er ist eine schwere Verfehlung gegen die rechte Eigenliebe. Er verstößt gegen die Nächstenliebe und die Solidarität mit der Familie und den Mitmenschen. Er widerspricht der Liebe zum lebendigen Gott. Schwere psychische Störungen und Angst vor einem Schicksalsschlag, vor Qualen oder Folter können die Verantwortlichkeit des Suizidenten vermindern. Die Hoffnung auf das ewige Heil des Suizidenten dürfe man deshalb nicht aufgeben.

In „Evangelium Vitae“ wird der Suizid als Verstoß gegen das fünfte Gebot und gegen die Eigen- und Nächstenliebe abgelehnt: „Obwohl bestimmte psychologische, kulturelle und soziale Gegebenheiten einen Menschen dazu bringen können, eine Tat zu begehen, die der natürlichen Neigung eines jeden zum Leben so radikal widerspricht, und dadurch die subjektive Verantwortlichkeit vermindert oder aufgehoben sein mag, ist der Selbstmord aus objektiver Sicht eine schwere unsittliche Tat, weil er verbunden ist mit der Absage an die Eigenliebe und mit der Ausschlagung der Verpflichtungen zu Gerechtigkeit und Liebe gegenüber dem Nächsten … und gegenüber der Gesellschaft als ganzer“.

Das Dokument der vatikanischen Glaubenskongregation „Samaritanus Bonus“ befaßt sich mit verschiedenen Aspekten einer menschenwürdigen Versorgung von Schwerkranken und Sterbenden vor dem Hintergrund der Legalisierung der Euthanasie in verschiedenen Ländern. Den Versuchen, den Tod zu kontrollieren, sei es durch therapeutischen Übereifer oder durch assistierten Suizid, stellt die Kirche die palliative Versorgung und die pastorale Begleitung gegenüber. Dazu werden zahlreiche Vorschläge gemacht.

Das Dokument unterstreicht aber auch, daß „angesichts von Gesetzen, die (…) Euthanasie oder assistierten Suizid legitimieren, jede direkte formelle oder materielle Mitwirkung daran immer verweigert werden muß“: Die Vertreter der Kirche haben die Menschen in der Endphase ihres Lebens mit Empathie, Mitleid, Liebe und Trost zu begleiten. Die Priester haben ihnen die Sakramente der Buße und Versöhnung, der Krankensalbung und der Eucharistie anzubieten. Wenn Suizidwillige um diese Sakramente bitten, haben die Priester jedoch darauf zu achten, daß sie die Suizidabsichten aufgeben. Andernfalls handelt es sich um „eine offenkundige Indisposition für den Empfang der Sakramente“. Keinesfalls dürfen sie bei der Durchführung des Suizids anwesend bleiben, weil dies nur als Mitwirkung an der Beseitigung eines menschlichen Lebens interpretiert werden könnte.

Alle Länder, die bisher die Beihilfe zum Suizid legalisiert haben, zeigen, daß der Übergang von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen fließend ist. Berichte der niederländischen Kontrollkommissionen, denen jede Beihilfe zum Suizid zu melden ist, zeigen, daß diese Beihilfe mißlingen kann und in aktiver Sterbehilfe endet. Die aktive Sterbehilfe liegt deshalb in der Logik der Suizidassistenz. Wer unter Berufung auf die Selbstbestimmung die Suizidassistenz legalisiert, öffnet das Tor zur Euthanasie. 






Prof. em. Dr. Manfred Spieker, Jahrgang 1943, lehrte von 1983 bis 2008 Christliche Sozialwissenschaften am Institut für katholische Theologie an der Universität Osna­brück.

Manfred Spieker: Biopolitik. Probleme des Lebensschutzes in der Demokratie  Ferdinand Schöningh 2009, kartoniert, 290 Seiten, 28,90 Euro

Rainer Maria Kardinal Woelki, Christian Hillgruber, Giovanni Maio, Christoph von Ritter, Manfred Spieker: Wie wollen wir sterben? Beiträge zur Debatte um Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Ferdinand Schöningh 2015, kartoniert, 112 Seiten, 19,90 Euro

Manfred Spieker: Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa. Ferdinand Schöningh 2011, kartoniert, 258 Seiten, 37,90 Euro





Bundestag berät Suizidhilfe

Zur gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe haben die Bundestagsabgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP), Karl Lauterbach (SPD) und Petra Sitte (Linke) vergangene Woche einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag vorgelegt. Der Entwurf sieht ein Recht auf assistierte Selbsttötung nach eingehender Beratung vor. Zudem formuliert er Voraussetzungen, damit Sterbewillige Zugang zu Medikamenten zum Suizid erhalten. Wörtlich heißt es: „Jeder, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben beenden möchte, hat das Recht, hierbei Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Und weiter: „Jeder darf einem anderen, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben beenden möchte, Hilfe leisten“. Aber: Niemand könne dazu verpflichtet werden. „Ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben darf es nicht nur auf dem Papier geben“, sagte die FDP-Politikerin und Rechtsanwältin Katrin Helling-Plahr (34) bei der Vorstellung des Papiers.

Ein zweiter Gesetzentwurf, der in eine ähnliche Richtung zielt, stammt von den beiden Grünen-Abgeordneten Renate Künast und Katja Keul. „Wir unterscheiden im Verfahren zwischen denen, die an einer schweren Erkrankung leiden, und dem Suizidwunsch aus anderen Gründen.“ (tha)